OPPOSITIONELLE JUGENDARBEIT IN SELIGENSTADT 1972 - 1976

Versuch einer Analyse und Kritik unter jugendarbeitstheoretischen und kirchensoziologischen Gesichtspunkten


Abschlußarbeit
vorgelegt
von
Peter Heinrich
Ausbildungskurs 1975/78
Fachbereich Sozialpädagogik
Ev. Fachhochschule Darmstadt




Gliederung


1. Einleitung
2. Oppositionelle Jugendarbeit in Seligenstadt - Bericht aus der Praxis
2.1 Überblick
2.1.1 Basisgruppe Seligenstadt - Opposition als unreflektierter Protest
2.1.2 Dritte Welt, Kriegsdienstverweigerung und politische Filme - Opposition als Thematisierung allgemeinpolitischer Probleme
2.1.3 Projekt Jugendcafe - Opposition im Freizeitbereich
2.1.4 Rückzug der evangelischen Jugend - Opposition als individuelle Emanzipation
2.1.5 Opposition als politisches Bündnis organisierter Jugendgruppen
2.2 Projekt Jugendcafe im "Haus der Jugend" Seligenstadt
2.2.1 Vorgeschichte
2.2.2 Beginn der Renovierung und erste Schwierigkeiten
2.2.3 Bildung des "Freundeskreises Haus der Jugend"
2.2.4 Beginnende Selbstverwaltung im Jugendcafe
2.2.5 Eröffnung, Verabschiedung des Organisationsstatuts, Bildung von Arbeitsgruppen im Jugendcafe
2.2.6 Erster massiver Konflikt mit der Stadt
2.2.7 Wachsende Schwierigkeiten im Inneren - Rückzug der evangelischen Jugend
2.2.8 Weitere Entwicklung
2.2.8.1 Die ehemalige Mitarbeitergruppe um die evangelische Jugend
2.2.8.2 Der Stadtjugendring
2.2.8.3 Die Parteien und Fraktionen
2.2.8.4 Die neue Aktivengruppe
2.2.9 Das Haus der Jugend ist "vorläufig" geschlossen
2.2.10 Wiedereröffnung mit "Benutzungs- und Vergabeordnung"
2.2.11 Der Kampf um die "Regelbelegung"
2.2.12 Nichts mehr los im Haus der Jugend
2.3 Der Konflikt zwischen dem Leitungsteam der evangelischen Jugend und dem Kirchenvorstand
2.3.1 Beauftragung des Leitungsteams
2.3.2 Beginn des Konflikts
2.3.3 Versuch der demokratischen Lösung des Konflikts
2.3.4 Veröffentlichung des Konflikts und Einlenken der Kirchengemeinde
2.3.5 Formelles Verbot der Arbeit des Leitungsteams und Rehabilitation
3. Jugendarbeitstheoretische Aspekte einer Analyse und Kritik der Praxis im Projekt Jugendcafe
3.1 Die verschiedenen "Ansätze" in der Jugendarbeit und ihr theoretischer Hintergrund
3.1.1 Traditionelle Jugendarbeit
3.1.2 Progressive Jugendarbeit
3.1.3 Antikapitalistische Jugendarbeit
3.1.4 Emanzipatorische Jugendarbeit
3.1.5 Weiterführende Ansätze
3.1.5.1 Burkhard Bierhoffs "kritisch-emanzipative" Jugendarbeit
3.1.5.2 Diethelm Damms "politische" Jugendarbeit
3.1.5.3 Nando Belardis "erfahrungsbezogene" Jugendarbeit
3.2 Die Intentionen und die Praxis der verschiedenen am Projekt beteiligten Gruppen
3.2.1 Die Stadtverwaltung und der Magistrat
3.2.2 Der Stadtjugendring
3.2.3 Die evangelische Jugend
3.2.4 Der Freundeskreis Haus der Jugend
3.2.5 Die Gruppe Aktion Jugendhaus
3.2.6 Die "oppositionellen" Jugendorganisationen
3.3 Zusammenfassende Kritik
3.3.1 Das Jugendcafe Seligenstadt im Kontext der Jugendzentrumsbewegung in der BRD
3.3.2 Zur Strategie einer an den Interessen der Jugendlichen orientierten Arbeit im konservativen Umfeld
3.3.3 Fazit - was kommt unter dem Strich an politischen Lernmöglichkeiten im Projekt Jugendcafe heraus ?

4. Kirchensoziologische Aspekte einer Analyse des Konflikts Leitungsteam der evangelischen Jugend / Kirchenvorstand in Seligenstadt
4.1 Evangelische Jugendarbeit als Spannungsfeld unterschiedlicher pädagogisch-theologischer Orientierungen
4.1.1 Typen theologischer Begründung und konkreter Ausformung evangelischer Jugendarbeit und ihr historischer Hintergrund
4.1.1.1 Missionarische evang. Jugendarbeit
4.1.1.2 Gemeindebezogene evang. Jugendarbeit
4.1.1.3 Bedürfnisorientierte evang. Jugendarbeit
4.1.1.4 Emanzipatorische evang. Jugendarbeit
4.1.2 Die Polarisierung in der evang. Jugend
4.1.3 Die Bedeutung der verschiedenen Ansätze evang. Jugendarbeit für das Verständnis des Konflikts in Seligenstadt
4.2 Ansätze zu einer näheren Bestimmung der Kirchengemeinde als soziologische Einheit
4.2.1 Die Kerngemeinde als Subkultur in der Volkskirche
4.2.2 Die Wähler zum Kirchenvorstand - soziologische Betrachtung
4.2.2.1 Altersstruktur der Wähler
4.2.2.2 Erwerbs- und Berufsstruktur der Wähler
4.2.3 Der Kirchenvorstand und seine Zusammensetzung
4.2.3.1 Altersstruktur des Kirchenvorstandes
4.2.3.2 Berufsstruktur des Kirchenvorstandes
4.2.4 Zusammenfassung und Verallgemeinerung
4.2.5 Bedeutung der kirchensoziologischen Analyse für das Verständnis des Konflikts in Seligenstadt
4.2.6 Kritik der Praxis des Leitungsteams

5. Schluß
Literaturverzeichnis


Anlagen


1. Einleitung

Ich habe den Versuch unternommen, meinen eigenen Lernprozeß als aktiver ehrenamtlicher Mitarbeiter in der Jugendarbeit und später als Student zum Leitfaden für den Aufbau dieser Arbeit zu machen. Ausgangspunkt ist daher die Aufarbeitung jener Erfahrungen, die ich von 1972 bis 1976 in verschiedenen Gruppen und Projekten der Jugendarbeit in Seligenstadt gemacht habe. Diese Aufarbeitung soll einerseits objektivierende Funktion haben: Ich habe mich bemüht, die damaligen Prozesse anhand von Originalbelegen, über die ich selbst noch verfügte, und mit einem kompletten Presse-Spiegel, den ich mir aus den Archiven der Lokalzeitungen verschaffte, bis in Details zu rekonstruieren. Andererseits läßt es sich nicht vermeiden, daß diese Darstellung engagiert ist, denn ich bin selbst in die beschriebenen Geschehnisse als Person einbezogen gewesen. Ich habe diesen Widerspruch zwischen dem Anspruch möglichst objektiver Analyse und meiner subjektiven Betroffenheit durch die ganze Arbeit hindurch als Problem empfunden. Jedoch ist es dem Leser vielleicht durch den umfangreichen Anhang, auf den sich der Praxisteil mit Verweisen bezieht, möglich, sich selbst ein Bild zu machen. Die beiden Schwerpunkte, die ich in dieser Darstellung entwickele, sollen die Grundlage für zwei Theoriekomplexe liefern: Die jugendarbeitstheoretische Diskussion soll bezogen werden auf die Praxis im Projekt Jugendcafe und zu einer differenzierten Einschätzung der verschiedenen beteiligten Gruppierungen führen; die Darstellung der verschiedenen Positionen in der evangelischen Jugendarbeit und eine nähere Analyse der Kirchengemeinde als soziologische Größe sollen Aspekte zu einer Erklärung des Konfliktes zwischen dem Leitungsteam der evangelischen Jugend und dem Kirchenvorstand liefern.

Der in dem Titel der Arbeit verwendete Begriff der "oppositionellen" Jugendarbeit wurde gewählt, um einer eingehenden Analyse der Funktion dieser Jugendarbeit - etwa als "politische", "emanzipatorische" oder wie auch immer titulierten Jugendarbeit - nicht vorzugreifen. Die Einschätzung, daß die geschilderte Praxis für Seligenstädter Verhältnisse "oppositionell" ist, läßt sich sicher nicht bestreiten. Ihre weitergebenden politischen Implikationen sind indessen außerordentlich widersprüchlich und nur differenziert zu beschreiben.


2. Oppositionelle Jugendarbeit in Seligenstadt - Bericht aus der Praxis

Seligenstadt liegt im östlichen Kreis Offenbach, wo der Main die Grenze zu Bayern bildet. Die Kleinstadt ist der Mittelpunkt einer Region mit zusammen etwa 35000 Einwohnern, wozu nach der Gebietsreform heute Seligenstadt, Hainburg und Mainhausen gehören. Die Stadt liegt verkehrsgünstig im Rhein-Main-Gebiet, an der Autobahn Frankfurt-Würzburg, der Bundesbahnstrecke von Hanau in den Odenwald und der Bahnbuslinie nach Offenbach. Dennoch ist Seligenstadt vor weitreichenden Veränderungen in der Sozialstruktur im Zuge der Entstehung von "Schlafstädten" um Frankfurt herum verschont geblieben. Das Bevölkerungswachstum von 1961 bis 1970, wo 12165 Einwohner gezählt wurden, betrug nur 26,1 % und lag damit deutlich unter dem Durchschnitt des Kreises Offenbach. Es gibt kein ausgesprochenes Beton-Ghetto, abgesehen von drei Punkt-Hochhäusern und mehreren 4-geschossigen Wohnblocks im Norden der Stadt, dem Niederfeld. Dort wohnen vor allem die Angestellten der AEG, des größten Betriebs von Seligenstadt. Außer der Altstadt um den historischen Marktplatz herum, die vor allem von mehr oder weniger erhaltenen Fachwerkhäusern geprägt ist, gibt es an größeren abgegrenzten Stadtteilen noch das "Südring-Gebiet", wo die Villen der oberen 1000 Seligenstadts stehen, und das Neubaugebiet im Westen, in dem die 2 bis 3-geschossige Bauweise überwiegt. Durch die Mittelpunktfunktion, die Seligenstadt für den Ostkreis hat, sind wichtige soziale Einrichtungen vorhanden: das Kreiskrankenhaus, die Polizeistation, die Gesamtschule, die Sonderschule, Ärzte, Apotheken, Banken und Sparkassen. Ebenso ist Seligenstadt der Einkaufsmittelpunkt und es gibt alle Arten von Fachgeschäften. Auch Handwerksbetriebe sind umfangreich vertreten. Die überdurchschnittlich vielen Gaststätten (es gibt zwei Brauereien in Seligenstadt) tun ein übriges, daß im Gegensatz zu den Gebieten Im mittleren und westlichen Kreis Seligenstadt seine urbane Funktion erhalten konnte. Die Altersstruktur der Bevölkerung weicht nicht wesentlich vom BRD-Durchschnitt und vom Durchschnitt des Kreises ab. Der Anteil der Erwerbstätigen liegt zugunsten der Angehörigen um 11 % niedriger als der BRD-Durchschnitt bei 41 %, was wahrscheinlich auf den geringen Anteil an Zweitverdienern zurückzuführen ist. Von den Erwerbstätigen sind 49,1 % Arbeiter, was einem etwas überdurchschnittlichen Anteil entspricht. Die meisten sind im produzierenden Gewerbe beschäftigt und pendeln z.T. nach Offenbach und Hanau.

72,2 % der Bevölkerung waren 1970 katholisch. Der Anteil war früher noch höher. Die beiden katholischen Pfarrgemeinden haben großen Einfluß auf die Katholiken. Die Verzahnung von Kommunalpolitik und katholischer Kirche ist traditionell stark. Die evangelische Kirchengemeinde hat weit weniger Einfluß und ist stark isoliert.

Die CDU hat seit langem die absolute Mehrheit im Stadtparlament (1972: 56 %, 1977: 64 %). Ihr Stimmenanteil differiert je nach Stadtteil: Im Niederfeld, wo fast nur Neuhinzugezogene leben, ist er um etwa 20 % niedriger als z.B. in der Altstadt oder im Villenviertel. Bestimmend sind in Seligenstadt jedoch ohne Frage die Alteingesessenen, die wollen, daß alles so bleibt, wie es immer schon war.

Das gesamte kulturelle Leben der Stadt spielt sich in unzähligen Vereinen ab. Hier besteht auch die einzige Möglichkeit, mit anderen Menschen Kontakt aufzunehmen. Obwohl die Repräsentanten Seligenstadts ständig voller Stolz verkünden, daß sich für jedes Interesse irgendein Verein finden läßt, haben es gerade neu hinzuziehende Bürger schwer, in die alten, gewachsenen Strukturen hineinzukommen. Seligenstadt zeichnet sich auch auf diesem Gebiet durch eine bestechende Konservativität aus.

Besonders unbefriedigend ist die Situation für Jugendliche. Offene Angebote, wo man zwang- und formlos Kontakte knüpfen kann, gibt es nur in Gestalt der zahlreichen Gaststätten - und auch diese haben ihre eigenen, relativ geschlossenen Zielgruppen. Ansonsten sind die Jugendlichen auf die Jugendabteilungen der Vereine angewiesen, wollen sie nicht den ganzen Tag zu Hause sitzen oder sich (im Sommer) am Mainufer treffen.

Es gibt die unterschiedlichsten Formen, aus dieser Vorbestimmtheit auszubrechen. Es gibt eine Opposition, die sich gegen das provinzielle Vereinsschema wehrt. Ebenso unterschiedlich wie die Formen der Opposition sind ihre politischen Funktionen: sei es der Rückzug in die private heile Welt einer Wohngemeinschaft, der offene Protest gegen die unbefriedigende Situation in der Öffentlichkeit oder der Versuch, alternative Möglichkeiten der Freizeitgestaltung zu schaffen.

Ich möchte daher den folgenden Überblick über die oppositionelle Jugendarbeit, die es in Seligenstadt gegeben hat, in Abschnitte untergliedern, die mit der in den Vordergrund tretenden Ausformung von "Opposition" überschrieben sind. Daß darin eine positive Entwicklung von den ersten Anfängen "unreflektierten Protests" bis zum "organisierten Bündnis" liegt, dürfte deutlich werden. Jedoch hat m.E. jede Stufe ihre Berechtigung in einem kollektiven Lernprozeß der betroffenen Jugendlichen.

Nach diesem Überblick - der notwendigerweise bruchstückhaft und oberflächlich bleiben muß - will ich mich zwei Schwerpunkten widmen:

Den Konflikten dieser Jugendarbeit im städtischen "Haus der Jugend", die schließlich zur Schließung des Jugendcafes führten, und den Auseinandersetzungen zwischen der evangelischen Jugend und der Kirchengemeinde Seligenstadt, die durch das Engagement der evangelischen Jugend im Haus der Jugend mit hervorgerufen wurde.


2.1 Überblick

Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, die Entwicklung einer oppositionellen Jugendarbeit in Seligenstadt von den ersten Anfängen bis zum heutigen Stand ausführlich zu schildern. [Eine solche umfassende Darstellung liefert die bereits vorliegende Examensarbeit von Norbert Brauneis : Politische Jugendarbeit in Seligenstadt (1976/77).]

Ich will hier nur kurz die Zusammenhänge verdeutlichen, in denen die in den beiden folgenden Kapiteln geschilderten Vorgänge stehen. Eine schematische Darstellung, an der sich die folgenden Ausführungen orientieren, soll die zeitliche Entwicklung verdeutlichen (2.1 Anlage 1).


2.1.1 Basisgruppe Seligenstadt - Opposition als unreflektierter Protest (1970)

Aus dem Konfirmandenjahrgang 1970 der evangelischen Kirchengemeinde entsteht, angeregt vom Gemeindepfarrer, eine Gruppe Jugendlicher, die "weitermachen" will. Es bildet sich die "Basisgruppe Seligenstadt", eine der damals aktuellen Protestbewegung entlehnte Bezeichnung für eine Jugendgruppe, die sich im Keller des Pfarrhauses trifft. Die überwiegend aus Gymnasiasten bestehende Gruppe beschließt, "Aktionen zu machen". Zur spektakulärsten Aktivität wird die Verteilung eines Flugblatts an alle Haushalte im zur Kirchengemeinde gehörenden Filialort Zellhausen, welches sich gegen die Sammelaktion der katholischen Gemeinde für neue Kirchenfenster wendet. Diese Aktion führt zu einer gewissen Politisierung der beteiligten Jugendlichen. (2.1 Anlage 2 )


2.1.2 Dritte Welt, Kriegsdienstverweigerung und politische Filme - Opposition als Thematisierung allgemein politischer Probleme (1971/72)

Aus Resten der Basisgruppe, die sich langsam auflöst, sowie aus interessierten Jugendlichen des folgenden Konfirmandenjahrgangs 1971 kristallisiert sich das "Leitungsteam" der evangelischen Jugend heraus. Kontakte zur evangelischen Jugendarbeit auf Dekanatsebene führen zur Gründung des "Filmclubs", der ab Mitte 1971 monatlich einen "amüsanten, interessanten, aktuellen oder problematischen Film" (Einladungsplakat) zeigt. Ebenso entstehen aus einem "Sozialseminar" der Dekanatsjugend die thematischen Orientierungen an der 3.-Welt-Problematik und der Kriegsdienstverweigerung. Aufgrund von Aufrufen des inzwischen vom Kirchenvorstand formell mit der Durchführung evangelischer Jugendarbeit beauftragten Leitungsteams entstehen die Projektgruppen 3. Welt und Kriegsdienstverweigerung. Beide Gruppen, die überwiegend von Schülern gebildet werden, beschäftigen sich zunächst mit der Durcharbeitung vorliegenden Materials zum jeweiligen Thema.

Durch den Kontakt zur "Aktion Dritte Welt Handel" organisiert die 3. Welt - Gruppe bereits 1972/73 öffentliche Informationsveranstaltungen mit Warenverkauf. Nach der Erlahmung der Initiative im Jahre 1973 kommt es Ende 1974 zur Neugründung als "Arbeitskreis Dritte Welt". In den Jahren 1975 "und 1976 festigt sich die Gruppe und verselbständigt sich schließlich 1976 als eingetragener Verein. Ende 1976 wird der Dritte-Welt-Laden eröffnet, der eine kontinuierliche bewußtseinsbildende Arbeit aufnimmt.

In der Kriegsdienstverweigerer-Gruppe wird schon nach Kurzem die Notwendigkeit überregionaler Organisierung deutlich. So konstituiert sie sich im Sommer 1973 als Ortsgruppe des Verbandes der Kriegsdienstverweigerer. Seit dem werden - wenn auch mit immer weniger Aktiven - bis heute ständige Beratungen für Kriegsdienstverweigerer durchgeführt, es finden Aktionen und Veranstaltungen statt und es wird intensive Öffentlichkeitsarbeit betrieben.


2.1.3 Projekt Jugendcafe - Opposition im Freizeitbereich (1972/73)

Ende 1972 erhält das Leitungsteam der evangelischen Jugend vom Stadtjugendring das Angebot, Räume im städtischen Haus der Jugend in eigener Verantwortung zu übernehmen. Die Idee eines Jugendcafes wird geboren. Gemeinsam mit neu hinzukommenden nicht-organisierten Jugendlichen werden die Räume renoviert und ansatzweise selbst verwaltet. Mit dem Beginn dieser offenen Arbeit werden zum ersten Mal Arbeiterjugendliche angesprochen. Das Jugendcafe ist zu verstehen als eine alternative Freizeitmöglichkeit, die sich von der Situation in den Vereinen einerseits und in den Gastwirtschaften andererseits durch Repressionsarmut und den fehlenden Konsumzwang abgrenzt. Mit dem Jugendcafe werden zum ersten Mal die materiellen Interessen eines großen Teils der Jugendlichen nach Freizeit ohne Kontrollen und Ausbeutung aufgegriffen.

Es werden jetzt auch Randgruppenjugendliche angesprochen, die nicht in den Rahmen bürgerlicher Vorstellungen passen: Drogengefährdete, Trebegänger, Ausreißer, Jugendliche mit familiären Schwierigkeiten, aggressive Jugendliche. Dadurch kommen das Leitungsteam und die anderen Mitarbeiter ständig in die Situation, die Arbeit gegenüber der Öffentlichkeit, der Stadt und dem Stadtjugendring verantworten zu müssen. Auch der Kirchenvorstand bereitet Schwierigkeiten: Aus heiterem Himmel heraus müssen sich die Jugendlichen rechtfertigen und die Etat-Mittel werden gestrichen.

Im Jugendcafe führen die Auseinandersetzungen zu einer Spaltung der Aktiven, die Gruppe um die evangelische Jugend zieht sich zurück. Das Jugendcafe wird ein halbes Jahr später von der Stadt geschlossen.


2.1.4 Rückzug der evang. Jugend - Opposition als individuelle Emanzipation (1974/75)

Mit dem Ausstieg der Gruppe um die evangelische Jugend aus dem Projekt Jugendcafe zieht sich ein großer Teil der Aktiven ins Private zurück. Man trifft sich einmal wöchentlich in Wohnungen von Gruppenmitgliedern, um als "Gemeinschaft" zusammenzubleiben. Öffentliches Engagement tritt zugunsten der Beschäftigung mit Gruppenproblemen in den Hintergrund. Auf gruppendynamisch orientierten Seminaren werden Beziehungen abgeklärt. Der Wohnbereich spielt von jetzt an eine große Rolle: Viele Jugendliche ziehen von zu Hause aus, es bildet sich eine Wohngemeinschaft, die zeitweise zum Treffpunkt für die versprengten Reste der Jugendcafe-Veteranen wird.

Die Kirchengemeinde hofft, daß die unbequem gewordene Arbeit des Leitungsteams langsam einschläft und unternimmt nichts, um den Konflikt weiterzutreiben.


2.1.5 Opposition als politisches Bündnis organisierter Jugendgruppen ( 1975 - )

Es dauert über ein Jahr nach dem Ende des Jugendcafes, bis die dort erlittene Enttäuschung überwunden ist und es zu einer neuen Initiative kommt: Mit der Gründung der Projektgruppe "Seligenstädter Jugend-Blatt" entsteht ein breites Bündnis fortschrittlicher Jugendorganisationen, die schon früher bestanden haben oder durch die oben geschilderte Arbeit entstanden sind. Das Jugendblatt erscheint seit Mitte 1975 mittlerweile in der 18. Ausgabe und hat sich bei einer Auflage von 700 eingependelt.

Das Haus der Jugend erlebt im gleichen Zeitraum seine Wiedereröffnung, allerdings unter einer vom Stadtjugendring erlassenen restriktiven Nutzungsordnung, die jeden Ansatz einer kontinuierlichen, möglicherweise offenen Jugendarbeit erstickt. Die im Stadtjugendring vertretenen und damit zur Nutzung berechtigten Organisationen Jungsozialisten, Kriegsdienstverweigerer und evang. Jugend ermöglichen zwar auch anderen Gruppen die Benutzung, jedoch das Verbot, die Räume über einen längeren Zeitraum zugesprochen zu bekommen, schränkt die Möglichkeiten stark ein.

Dies führt zum engeren Zusammenrücken der inzwischen bestehenden "oppositionellen" Jugendgruppen: Amnesty International, Arbeitskreis Dritte Welt, Kriegsdienstverweigerer, evangelische Jugend, Filmclub, Jungsozialisten und Seligenstädter Jugend-Blatt verfassen eine gemeinsame Resolution an den Stadtjugendring, in der sie die feste Nutzungsmöglichkeit im Haus der Jugend fordern. Sie erreichen eine geringfügige Änderung der Benutzungsordnung.

Dem Leitungsteam der evangelischen Jugend wird daraufhin wegen des öffentlichen Eintretens für ein Jugendhaus vom Kirchenvorstand verboten, weiterhin evangelische Jugendarbeit zu betreiben. Diesen Beschluß muß er später zwar aufgrund des Einspruchs des Leitungsteams revidieren, jedoch stellt das Leitungsteam seine Arbeit wegen der Aufnahme von Studien sowieso ein. Die katholische Pfarrei kündigt den Raum für die Filmvorführungen des Filmclubs, da "die gezeigten Filme nicht dem Gedanken unserer katholischen Jugendarbeit entsprechen" (aus dem Schreiben).

Betrachtet man die aktuelle Situation, so gibt es ein Jugendhaus, "in dem nichts mehr los ist" und eine begrenzte Gruppe von in verschiedenen Organisationen tätigen Aktiven, denen die Möglichkeit fehlt, breitere Kreise von Jugendlichen für ihre Ziele anzusprechen. Der größte Teil der jungen Menschen in Seligenstadt wird nach wie vor ordnungsgemäß in den Jugendabteilungen der verschiedenen Ortsvereine betreut.


2.2 Projekt Jugendcafe im Haus der Jugend Seligenstadt

2.2.1 Vorgeschichte

Das "Haus der Jugend" in Seligenstadt ist ein dreistöckiges altes Fachwerkgebäude, zentral gelegen zwischen dem historischen Marktplatz und der Einhard-Basilika. Bis zum Bau neuer Gebäude Ende der fünfziger Jahre beherbergte es das damalige städtische Realgymnasium. Unter dem Namen "Progymnasium" ist das Haus der Jugend noch heute vielen Seligenstädtern bekannt. Anfang der sechziger Jahre standen einige Räume dem Stadtjugendring zur Verfügung, der sie zu festgesetzten Zeiten an ihm angeschlossene Gruppen weiter vergab. Danach war die Sonderschule in den Räumen untergebracht, bis auch diese in neuerbaute Räume umziehen konnte.

Im September 1972 faßte der Magistrat der Stadt den Beschluß, die Räume im Parterre und im ersten Stock des Hauses der Jugend wieder dem Stadtjugendring zur Verfügung zu stellen. Im zweiten Stock war bereits zuvor die Jugendmusikschule eingezogen, im dritten Stock befand sich noch eine Wohnung.

Der Stadtjugendring ist ein eingetragener Verein, der sich als "Dachorganisation Seligenstädter Jugendgruppen" ( § 1 seiner Satzung) versteht. "Dem Stadtjugendring obliegt die Koordination aller jugendpflegerischer Aufgaben der ihm angeschlossenen Vereine und Gruppen, ohne deren Eigenständigkeit anzutasten" ( § 2a der Satzung). "(Kooperative) Mitglieder des Stadtjugendrings können alle Jugendgruppen der Seligenstädter Vereine und Vereine selbst werden, die jugendpflegerischen Zwecken dienen. Nur solche Gruppen können die Mitgliedschaft erwerben, die gemäß ihrer Satzung und aufgrund ihrer Tätigkeit den Bestimmungen des Grundgesetzes entsprechen" ( § 5c der Satzung). Von den damaligen 25 Mitgliedsvereinen sind 8 unter die Rubrik Sportvereine zu zählen, 6 sind konfessionsgebunden (darunter 5 katholisch), weitere Vereine befassen sich mit einem eingegrenzten Hobbybereich, nur jeweils 2 Vereine sind entweder karitativ oder politisch tätig. Jugendgruppen von Organisationen, die in der Tradition der Arbeiterbewegung stehen, fehlen - bis auf die Jungsozialisten - völlig. Es handelt sich überwiegend um "Jugendabteilungen" von Ortsvereinen, deren Ziel eine reibungslose Integration in bestehende Vereins- und sonstige Strukturen ist. In kaum einem Mitgliedsverband des Stadtjugendrings gibt es einen demokratischen Aufbau der Jugendarbeit. Entsprechend sieht die Mitgliederversammlung des Stadtjugendrings aus: Die Entscheidungen der "Dachorganisation Seligenstädter Jugendgruppen" werden von "Jugendvertretern" getroffen, die in der Regel aus dem Vorstand des Erwachsenenvereins dorthin delegiert wurden. Vorsitzender des Stadtjugendrings war zum Zeitpunkt des folgenden Geschehens Manfred Hof von den "Vogelfreunden", seines Zeichens angesehener Apotheker zu Seligenstadt, bereits über 60 und Mitglied der CDU. Aufgrund dieser Struktur läßt es sich erklären, daß die Stadt Seligenstadt und ihr CDU-Magistrat den Stadtjugendring ohne Risiko als "einzige Vertretung der Seligenstädter Jugend" ansehen kann: Die Mehrheitsverhältnisse sind zugunsten einer traditionellen, politisch konform gehenden Jugendarbeit ein für alle mal gesichert. Daran konnten in jüngster Zeit auch fortschrittlichere Jugendgruppen wie DFG/VK, AK 3. Welt, Amnesty, nichts ändern: Für jedes dieser neuen Mitglieder wurde auch mindestens ein Verein der konservativen Seite neu in den Stadtjugendring aufgenommen.

Im Oktober 1972 teilte der Stadtjugendring-Vorsitzende in einem Rundschreiben an die angeschlossenen Vereine mit, daß die Räume im Parterre und ersten Stock des Hauses der Jugend nach entsprechender Renovierung in Eigenleistung interessierten Mitgliedsgruppen zur Verfügung stünden (2.2 Anlage 1a). Die evangelische Jugend beschloß daraufhin, einen entsprechenden Antrag auf Nutzung der Räume im Erdgeschoß als offenes Jugendcafe zu stellen und griff damit einen Vorschlag des Stadtjugendrings zu einer Arbeit für die "nicht-organisierten" auf. Dem Antrag wurde entsprochen und es erging ein Aufruf an alle bekannten Jugendlichen, sich an dem Projekt zu beteiligen (2.2 Anlage 1b). Die drei Räume im ersten Stockwerk erhielten der Wanderclub Edelweiß, die Vogelfreunde und der Vorstand des Stadtjugendrings zugesprochen. Da der Vorsitzende des Stadtjugendrings gleichzeitig Vorsitzender der Vogelfreunde war, konzentrierte sich auf ihn die Verfügungsgewalt über die einzigen beiden Räume, die das spätere Jugendcafe als Arbeits- und Gruppenräume benutzen konnte. Nach einer Planungsbesprechung wurde zum Beginn der Renovierung am 9. 12. 1972 öffentlich eingeladen (2.2 Anlage 2).


2.2.2 Beginn der Renovierung und erste Schwierigkeiten (12/72 - 3/73)

Zu diesem ersten Renovierungstermin erscheinen auf Anhieb so viele Jugendliche (über 50), daß es nur schwer zu einer Koordination der verschiedenen Aktivitäten kommen kann. Auf alle Fälle ist aber damit für die weitere Arbeit eine große Basis interessierter Jugendlicher gewonnen worden. Wenn auch die Zahl der Anwesenden in den nächsten Tagen zurückgeht, so hat sich jedoch der ursprüngliche Kreis um die evangelische Jugend um eine große Zahl "nicht-organisierter" erweitern können.

An Sylvester 1972/73 wird in den teilweise renovierten Räumen bereits kräftig gefeiert. Hier treten zum ersten Mal massive Schwierigkeiten mit Jugendlichen auf, die sich total betrinken. Wie sich herausstellt, handelt es sich z.T. um erst 14-jährige, die im Elternhaus große Probleme haben, in einigen Fällen stehen Heimeinweisungen bevor. Die älteren Mitarbeiter sind in dieser Nacht pausenlos mit dem Ausnüchtern alkoholvergiftungsgefährdeter Jugendlicher beschäftigt, was natürlich den Nachbarn nicht verborgen bleibt, und bereits am 11. 1. mahnt Bürgermeister Brehm in der Frankfurter Rundschau: "...schon Sylvester war es wohl etwas laut...".

Erst während die Renovierung bereits im Gange ist und täglich ab nachmittags von mehr oder weniger vielen Jugendlichen in den Räumen herumgewerkelt wird, entstehen räumliche Konzeptvorstellungen. Ein Entwurf wird einer Delegation des Magistrats bei deren Besuch im Haus der Jugend Anfang Januar 1973 vorgelegt (2.2 Anlage 3) (2.2 Anlage 4a).

Wenig später geht von den Jugendlichen ein Aufruf an die Bevölkerung, alte Sitzmöbel für das Jugendcafe zu spenden (2.2 Anlage 4b). Der Erfolg dieser Aktion ist so überwältigend, daß von den ursprünglichen Einrichtungsplänen nicht mehr viel übrig bleibt. Der hintere Raum wird vollständig mit Teppichen ausgelegt und mit Polstermöbeln ausgestattet. Im vorderen Raum steht die Theke und ein paar Tische. Eine Skizze zeigt die räumlichen Verhältnisse im Haus der Jugend. (2.2 Anlage 5)

Das Kreisveterinäramt macht einige Vorschriften für die Gewährung einer Ausschank-Genehmigung. Die einschneidendste Auflage lautet jedoch: Es muß während der Öffnungszeit des Jugendcafes eine volljährige Aufsichtsperson anwesend sein. Die Behörden behandeln das Jugendcafe wie einen Gaststättenbetrieb, d.h. es muß eine Schankkonzession erworben werden (die mit einer Gebühr von 500,- DM verbunden ist), es müssen alle Auflagen normaler Gaststätten erfüllt werden, ja die Stadtverwaltung geht sogar soweit, vom Jugendcafe Gewerbesteuer zu verlangen und die Gründung des Jugendcafes dem Finanzamt zu melden zwecks Erhebung von Umsatzsteuer. Die Stadt hat das Jugendcafe nie als eine pädagogische Einrichtung, sondern eher als eine Art Vereins-Kneipe behandelt. Der Stadtjugendring wendet sich nicht gegen dieses Vorgehen der Verwaltung. Vielmehr erklärt sich sein Vorsitzender bereit, die Konzession auf seinen Namen zu beantragen. Die ersten vier Monate des Projekts Jugendcafe sind von einer regen Renovierungstätigkeit gekennzeichnet. Dabei wird oft auf der einen Seite etwas aufgebaut, auf der anderen Seite neue Arbeit erzeugt; z.B. wird an einer an sich intakten Wand der gesamte Putz erneuert. "Mer brauche noch en Sack Fertischbutz" wird zum Standard-Ruf. Die gemeinsame Arbeit, die zumeist vom Nachmittag bis in die späte Nacht geht, schafft eine gute Atmosphäre. Es entsteht ein Stück miteinander Leben und Arbeiten. Im gleichen Zeitraum treten die ersten massiven Probleme bei Jugendlichen zu Tage: die bereits geschilderten Geschehnisse an Sylvester, im Januar sucht ein Mädchen bei den Jugendlichen Zuflucht, das von zu Hause fortgelaufen war, im Februar unternimmt ein Mädchen, das zu den aktivsten im Hause zählte, einen Selbstmordversuch. Im März verfügt der Stadtjugendring-Vorsitzende einen vorübergehenden Baustop, da Gerüchte über Rauschmittelgebrauch im Haus der Jugend bekannt wurden, die dann jedoch von der Kripo als unbegründet entkräftet wurden. Einige aktive Jugendliche werden in die Rolle von Sozialarbeitern gedrängt, die sich um sich häufende "Fälle" kümmern müssen.


2.2.3 Bildung des Freundeskreises Haus der Jugend 4/73 - 5/73

Nachdem feststeht, daß die Behörden von der Forderung nach der ständigen Anwesenheit einer volljährigen Aufsichtsperson nicht abrücken, von den Jugendlichen aber kaum einer schon 21 ist, schlägt Stadtjugendring-Vorsitzender Hof die Gründung eines "Freundeskreises Haus der Jugend" vor, in dem sich erwachsene Bürger bereit finden, an einem Tag in der Woche die "Oberaufsicht" (Hof) über den Betrieb im Jugendcafe zu führen.

Um erwachsene Mitarbeiter für den Freundeskreis zu gewinnen und um ansatzweise das negative Bild des Jugendcafes in der Öffentlichkeit zu verbessern, wird zu einer "Öffentlichen Diskussion" über das Jugendcafe zum 7. 4. 1973 eingeladen. Zuvor besteht die Möglichkeit, die Räumlichkeiten des Jugendcafes zu besichtigen und mit den Jugendlichen zu diskutieren. Zu der Versammlung kommen etwa 60 Personen in den evangelischen Gemeindesaal, davon ein großer Teil interessierter Eltern von Jugendlichen, die im Jugendcafe verkehren. Ein Mitarbeiter der evangelischen Jugend hält ein Referat über "Sinn und Ziele der Aktion Jugendcafe", über das anschließend diskutiert wird (2.2 Anlage 6). Die Teilnehmer der Versammlung verfassen eine Resolution an die Stadt Seligenstadt, in der die Einstellung eines Sozialarbeiters für das Jugendcafe gefordert wird. Gleichzeitig wird die Einrichtung des Jugendcafes, die zu den abenteuerlichsten Gerüchten geführt hatte, mit großer Mehrheit gebilligt. Die Antwort der Stadt, die erst drei Monate nach der Versammlung vorliegt, ist negativ: "Kein Geld". Im übrigen verweist der Magistrat auf die "ersprießliche Jugendarbeit" in den Seligenstädter Vereinen (2.2 Anlage 7)

Über die Veranstaltung wird ausführlich in der Lokalpresse berichtet (2.2 Anlage 8). Eine kleine Anekdote am Rande: Kurz vor Beginn der Versammlung im evangelischen Gemeindesaal spielte ein Jugendlicher am Sicherungskasten herum, worauf alle Glocken der evangelischen Kirche anfingen zu läuten. Der Pfarrer war sofort zur Stelle, warf die bereits anwesenden Besucher hinaus und schloß ab. Erst eine Delegation der erschienenen Erwachsenen konnte ihn später überreden, die im strömenden Regen Wartenden einzulassen.

Nachdem sich auf der öffentlichen Diskussionsveranstaltung nicht genug Erwachsene zur Mitarbeit im "Freundeskreis" bereiterklärt haben, startet der Stadtjugendringvorsitzende einen erneuten Anlauf mit einem großen Presseartikel im Lokalblatt (2.2 Anlage 9). Diesmal gelingt es, eine größere Gruppe zur Mitarbeit Bereiter zu finden (2.2 Anlage 10a).

Zum Sprecher des Freundeskreises wird ein Lehrer gewählt, seines Zeichens Vertreter der Meßdiener und Schola im Stadtjugendring und aktives Mitglied der CDU. Von den 25 Freundeskreismitgliedern sind bekannterweise 8 Mitglied dieser Partei, darunter die aktivsten.

In der Mai-Ausgabe des Informationsdienstes der evangelischen Jugend wird auf die momentane Problematik im Jugendcafe eingegangen. Jugendliche, z.T. Trebegänger, übernachten heimlich in den Räumen. Das Ordnungsamt macht Druck, weil der Betrieb im Jugendcafe eigentlich schon "läuft", obwohl noch keine behördliche Konzession erteilt ist. Offensichtlich ist von Seiten der Stadt, des Stadtjugendrings und der Öffentlichkeit der Druck auf die Mitarbeiter der evangelischen Jugend so groß, daß diese sich nicht scheuen, mit einer Anzeige zu drohen (2.2 Anlage 10b). Der Freundeskreis übergibt wegen dieser Vorfälle der örtlichen Polizeistation einen Schlüssel des Jugendcafes und bittet um nächtliche Überwachung.


2.2.4 Beginnende Selbstverwaltung im Jugendcafe 6/73 - 7/73

Zum 12. 6. 1973 wird zum ersten Mal von der evangelischen Jugend die "Mitarbeiterkonferenz" einberufen, die von nun an zu einer ständigen Einrichtung wird. Wöchentlich werden auf den für alle interessierten Jugendlichen offenen Sitzungen die anstehenden Probleme des Jugendcafes diskutiert und die entsprechenden Entscheidungen getroffen. Ebenso liegt in ihren Händen die Einteilung besonderer Aufgaben sowie des Thekendienstes. Die Mitarbeiterkonferenz bildet auf ihrer ersten Sitzung gleich drei Ausschüsse:

eine Arbeitsgruppe, die ein Papier zur Zielsetzung des Hauses der Jugend erarbeiten soll;

eine Arbeitsgruppe, die sich Gedanken zu einem Entscheidungsstruktur-Modell machen soll;

eine Arbeitsgruppe, die einen Fragebogen an alle Jugendcafe-Besucher zur Ermittlung ihrer Wünsche und Interessen ausarbeiten soll.

Die Ergebnisse liegen schon bald vor. Das Papier "Zielsetzung des Hauses der Jugend Seligenstadt" (2.2 Anlage 11) spiegelt sehr deutlich das Selbstverständnis der aktiven Mitarbeitergruppe um die evangelische Jugend wieder. Der Fragebogen wurde zwar sehr differenziert ausgearbeitet, aber leider nie ausgewertet. Das von der zweiten Arbeitsgruppe ausgearbeitete Strukturmodell wird zur Grundlage für den später von der evangelischen Jugend vorgelegten Entwurf zu einem Organisationsstatut des Jugendcafes, der im nächsten Abschnitt vorgestellt wird.

Zum 29. 6. 1973 wird zum ersten Mal zu einem "Plenum Haus der Jugend" eingeladen (2.2 Anlage 12). Es soll erreicht werden, daß die Besucher des Jugendcafes, die nicht zur Mitarbeiterkonferenz kommen, an der Entscheidung über die Programmgestaltung im Jugendcafe beteiligt werden. Das Gefühl, "das ist unser Haus", soll gesteigert werden. Das Plenum wird von nun an zur regelmäßigen Einrichtung.

Die Renovierungsarbeiten geben ihrem Ende entgegen. Nach mehrmaligem Verschieben wird die Eröffnung endgültig auf den 19. 8. 1973 festgelegt. Zwei Tage vor dem Eröffnungstermin erteilt die Abnahmekommission des Ordnungsamtes die Genehmigung.


2.2.5 Eröffnung, Verabschiedung des Organisationsstatuts, Bildung von Arbeitsgruppen im Jugendcafe 8/73 - 9/73

Am 19. 8. 1973 wird das Jugendcafe offiziell seiner Bestimmung übergeben. Die Presse berichtet ausführlich. (2.2 Anlage 13) (2.2 Anlage 14) (2.2 Anlage 15) Von diesem Zeitpunkt an beginnt der "normale" Jugendhausbetrieb. Das Jugendcafe ist nach einer Vereinbarung zwischen evangelischer Jugend, Stadtjugendring und Freundeskreis jeden Tag außer Montags und Donnerstags von 17-23 Uhr geöffnet. Der Freundeskreis übernimmt die formalrechtlich geforderte Aufsicht, indem während der Öffnungszeiten des Cafes ein erwachsenes Mitglied im Vorstandsraum im ersten Stock sitzt, verbunden mit dem Parterre durch eine Haustelefon-Anlage, "falls mal was passiert". Es werden nicht-alkoholische Getränke ausgeschenkt, hinzu kommen Süßigkeiten, Schmalzbrote und andere Kleinigkeiten, die der von der wöchentlich tagenden Mitarbeiterkonferenz eingeteilte Thekendienst verkauft. Täglich besuchen ca. 50 Jugendliche das Jugendcafe, hören Musik, spielen miteinander oder unterhalten sich.

Es sind drei verschiedene Entwürfe zu einem "Organisationsstatut" des Jugendcafes in der Diskussion:

der bereits im Juni erarbeitete Entwurf der evangelischen Jugend in der überarbeiteten Fassung vom 14. 8. 73 (2.2 Anlage 16)

ein vom Stadtjugendring-Vorsitzenden Hof eingebrachter Entwurf (2.2 Anlage 17)

ein Entwurf einer Gruppe Jugendlicher, die sich in den letzten Wochen im Jugendcafe zusammengefunden hat (2.2 Anlage 18a)

Der Entwurf der evangelischen Jugend geht von einer paritätischen Besetzung des obersten Entscheidungsgremiums mit Vertretern von Stadtjugendring und Freundeskreis auf der einen und evangelischer Jugend und nichtorganisierten Jugendlichen auf der anderen Seite aus, wobei sich die evangelische Jugend in Zukunft nur noch als beratende Organisation verstehen will und die Selbstverwaltungsaufgaben des Jugendcafes dem Jugendplenum und dem von diesem zu wählenden Jugendrat zuspricht.

Der Stadtjugendring-Vorschlag ist gegen die oben genannte Absicht der evangelischen Jugend gerichtet, die Verwaltung des Jugendcafes in die Hände der betroffenen Jugendlichen selbst zu legen. Er stärkt die Position der evangelischen Jugend durch eine festgeschriebene Mehrheit im Jugendrat. Dem Jugendplenum spricht er lediglich eine unterstützende Funktion bei der Verwaltung des Jugendcafes durch die evangelische Jugend zu. Ansonsten geht auch er von einem paritätisch besetzten obersten Entscheidungsgremium aus.

Der dritte Entwurf stellt als einziger die paritätische Besetzung des Spitzengremiums mit Vereins-, Erwachsenen-, Jugendverbands-, und "echten" Jugendvertretern in Frage und fordert eine mehrheitliche Vertretung der Besucher des Jugendcafes, um ihnen die Möglichkeit zu geben, ihre Interessen durchzusetzen.

Allen drei Entwürfen ist gemeinsam, daß sie eine rechtlich nicht verbindliche Organisationsform anstreben und an der formellen Trägerschaft des Stadtjugendrings nicht rütteln. Es handelt sich vielmehr um rechtlich nicht verbindliche Vorschläge zu "good-will-Vereinbarungen", die spätestens im Konfliktfall völlig bedeutungslos werden.

In diesem Zusammenhang muß darauf hingewiesen werden, daß selbst der Stadtjugendring als eingetragener Verein keinen schriftlichen Mietvertrag über die Räume im Haus der Jugend mit der Stadt abgeschlossen hatte, die Stadt also von sich aus - unbeschadet allen noch so demokratischen Aufbaus des Jugendcafes im Inneren - jederzeit die Nutzung verweigern konnte. So erscheint im Nachhinein jede Auseinandersetzung um "Organisationsstatute" naiv.

Einen Eindruck davon, wie beteiligte Personen und Gruppen im Konfliktfalle reagieren, vermittelt ein Schreiben des Stadtjugendringvorsitzenden, das er im Anschluß an ein Jugendplenum an die Jugendlichen richtete (2.2 Anlage 18b). Es war bei dieser Versammlung aus von mir nicht mehr nachvollziehbaren Gründen zu einem Ausschluß Hofs aus der Diskussion um die Organisationsstatute gekommen. Er fürchtet nun "eine Überrollung der evangelischen Jugend durch militante Gruppen" und stellt fest, daß es sich bei dem Jugendcafe "um einen Gaststättenbetrieb und kein Jugendforum" handelt. Dieses Schreiben vermittelt einen Eindruck in die Denk-Kategorien des Stadtjugendring-vorsitzenden.

Das von der evangelischen Jugend vorgelegte Organisationsstatut wird Anfang Oktober mit geringfügigen Änderungen verabschiedet.

Das vom 5. - 7. 10. 1973 veranstaltete Seminar der evangelischen Jugend für Jugendliche aus dem Projekt Jugendcafe führt zur Intensivierung der über den reinen Cafe-Betrieb hinausgehenden Initiativen: Es bilden sich eine Reihe von Arbeitsgruppen, die anschließend im Jugendcafe weiterarbeiten. Dazu gehören:

AG Zeitung, AG Kellergestaltung, AG Raumgestaltung, AG Musik, AG Festvorbereitung, AG Aufgabenhilfe, AG Kinderfest, AG Film und Foto, AG Jugendhaus im Gefängnis (es war an den Ausbau des ehemaligen Gefängnisses im Klosterhof zu einem zweiten Jugendtreffpunkt gedacht); ebenso bilden sich eine Lehrlingsgruppe und der Arbeitskreis Dritte Welt. Der Oktober 1973 bildet den Höhepunkt des Projektes Jugendcafe. Während dieser Zeit funktioniert die Selbstverwaltung einigermaßen, es gibt eine intensive inhaltliche Arbeit in den AGs und es ist eine große Zahl von Jugendhaus-Besucher aktiviert worden.


2.2.6 Erster massiver Konflikt mit der Stadt 10/73

Am 29. 10. 1973 kommt vormittags eine Kommission in das Haus der Jugend, um "routinemäßig" die Brandsicherheit der Räume zu überprüfen, und beschließt, der Stadt die Schließung des Jugendcafes zu empfehlen, bis verschiedene Auflagen erfüllt seien; unter anderem sollen die Polstermöbel "aus Sicherheitsgründen" entfernt werden. Es liegt auf der Hand, daß hier mit einer formalrechtlichen Begründung beseitigt werden soll, was nicht in das Ordnungs- und Sauberkeitskonzept der Stadt paßt. Am Nachmittag des gleichen Tages werden Bedienstete des städtischen Ordnungsamtes gesehen, wie sie im Jugendcafe fotografieren. Die Räume sind zu diesem Zeitpunkt noch nicht von den Jugendlichen geöffnet worden und dementsprechend auch noch vom letzten Abend her ziemlich unaufgeräumt. Von dieser Aktion war weder der Stadtjugendring-Vorsitzende noch der Freundeskreis, geschweige denn ein Vertreter der Jugendlichen unterrichtet worden. Die städtischen Bediensteten hatten einfach am Vormittag den Schlüssel behalten. Nachdem die Sache am Abend bekannt geworden ist, berufen die Jugendlichen in einer Blitzaktion sofort ein Plenum für den nächsten Tag ein (2.2 Anlage 19a).

Das Plenum beschließt, die Stadt um Aufschub zu bitten, bis legale Mittel gefunden seien, die Feuersicherheit der Räume zu gewährleisten, ohne auf die Polstermöbel zugunsten einer ungemütlichen Brauerei-Bestuhlung verzichten zu müssen. Inzwischen steht fest, daß die am Montagmittag gemachten Fotos bereits am Mittwoch dem Bürgermeister vorgelegt worden sind, der über die darauf gezeigten "Zustände" sehr erregt ist und vom Stadtjugendring telefonisch die sofortige Entfernung der Polstermöbel fordert. Die Entwicklung bis zum Mittwochabend wird - um alle Jugendlichen gleichmäßig zu informieren - auf einem Flugblatt dokumentiert (2.2 Anlage 19b).

Zwei Tage später ergehen die Auflagen des Ordnungsamtes "gemäß § 5 Abs. 1-3 des Gaststättengesetzes": Die Polstermöbel sind feuerhemmend zu isolieren, falls dies nicht möglich sei, zu entfernen. Die Spekulation, eine solche Imprägnierung sei zu kostspielig und damit für die Jugendlichen nicht durchführbar, erfüllte sich nicht: es wurde mit Hilfe eines Vaters (Chemiker) ein Verfahren gefunden, die Möbel selbst ohne große Kosten zu behandeln. Die Stadt mußte die in ihren Augen anrüchigen Polstermöbel weiter dulden.


2.2.7 Wachsende Schwierigkeiten im Inneren - Rückzug der evangelischen Jugend 11/73 - 12/73

Am 16. 11. 1973 erscheint ein Beitrag in der Lokalzeitung, der einige aktuelle Probleme des Jugendcafes aufgreift, letztlich jedoch die Position des Bürgermeisters und des Magistrats betont (2.2 Anlage 20). Aus Unmut über die tendenziöse Berichterstattung verfassen zwei Mitarbeiter des Jugendcafes einen Artikel, der in der Frankfurter Rundschau erscheint und zum ersten Mal die Probleme objektiv darstellt (2.2 Anlage 21).

Im gleichen Zeitraum wird der nach dem Organisationsstatut gültige Jugendrat gewählt, der fortan die Leitungsfunktion der evangelischen Jugend übernehmen soll. Dies zum einen aus einem pädagogischen Selbstverständnis der evangelischen Jugend des "sich-entbehrlich-Machens" heraus, zum anderen, weil der Kirchenvorstand der evangelischen Kirchengemeinde bereits seit Anfang Oktober Druck auf das Leitungsteam der evangelischen Jugend ausübt und die Trennung von Jugendhaus und evangelischer Jugend fordert.

Während seither die Konflikte mit Außengruppen im Vordergrund gestanden haben, nehmen jetzt die Probleme im Inneren des Jugendhauses rapide zu. Es gibt nach wie vor Jugendliche, die in den Räumen übernachten, es häufen sich Diebstähle, Fensterscheiben werden beschädigt, aggressive Jugendliche machen sich an der Einrichtung zu schaffen, die Sauberkeit wird zu einem zentralen Problem, es tauchen jugendliche Drogenkonsumenten auf. Es geht soweit, daß ein Mitarbeiter Dealern öffentlich mit einer Anzeige droht und Drogenkonsumenten Hausverbot ankündigt. Trotz der massiven Probleme Jugendlicher muß Apotheker Hof seine "Drogenberatungsstelle" im ersten Stock des Hauses der Jugend "wegen Unrentabilität" schließen. Es ist nur verständlich, daß sich bei einem Mann, der offen mit der Polizei und einem der reaktionärsten Ärzte Seligenstadts zusammenarbeitete, kaum Beratungswillige einfanden. Bei einer gemeinsamen Aussprache von Freundeskreis und jugendlichen Mitarbeitern erteilt ein Stadtverordneter den Rat, auffällige Jugendliche "auszumerzen".

Es kommt zu einer Spaltung der Aktiven im Jugendcafe. Zu den seitherigen Mitarbeitern um die evangelische Jugend kommt eine Gruppe von Schülern und Studenten hinzu, die bereits mit ihrem Entwurf zu einem Organisationsstatut, das den Jugendlichen mehr Rechte einräumen sollte, aufgetreten ist. Diese Gruppe hat sich in der Zwischenzeit stärker formiert und sich regelmäßig außerhalb des Jugendcafes getroffen. Dieser Gruppe ist - grob gesagt - das Konzept der seitherigen Mitarbeiterkonferenz nicht aggressiv genug.

Zu alledem sinkt das Interesse der Jugendlichen, sich an Thekendienst und Aufräumarbeiten zu beteiligen. Eine Arbeitsgruppe nach der anderen schläft ein. Als sich bei der Sitzung der Mitarbeiterkonferenz am 11. 12. 1973 nur eine Handvoll Jugendlicher einfindet, beschließt die Gruppe um die evangelische Jugend, eine Woche lang zu "streiken". Das heißt: Die Mitarbeitergruppe will das Jugendcafe eine Woche lang geschlossen halten und sich zur Beratung über die momentane Problematik zurückziehen. Der Beschluß wird den Jugendcafe-Besuchern mit einem Flugblatt mitgeteilt (2.2 Anlage 22).


2.2.8 Weitere Entwicklung 1/74 - 6/74

Ab diesem Zeitpunkt ist es notwendig, die Entwicklung der am Konflikt beteiligten Gruppen getrennt zu beschreiben.

2.2.8.1 Die ehemalige Mitarbeitergruppe um die ev. Jugend

zieht sich zur Beratung der Situation zurück. Ansatzweise wird die Rolle der Gruppe im Jugendcafe analysiert. Im Januar findet nochmals ein Seminar zum Thema Jugendhaus statt, das jedoch mehr den Charakter einer Abschiedsvorstellung hat. Die bereits früher bestandene Tendenz, sich von dem Geschehen im Jugendhaus zurückzuziehen, tritt verstärkt zu Tage. Statt dessen tritt die Gruppe in eine Beschäftigung mit sich selbst ein; Fragen des Gruppenprozesses, der Kommunikation miteinander, Wohngemeinschaftsbildung treten in den Vordergrund. Anfang März 1974 beginnen die "Freitagstreffs" in einem unbewohnten Haus der Eltern eines Gruppenmitglieds, wo zu diesem Zweck zwei Zimmer gemütlich hergerichtet wurden. Von da an trifft sich "die Gruppe" einmal wöchentlich, um gemeinsame Unternehmungen am Wochenende zu planen, sich über die Erfahrungen der vergangenen Woche auszutauschen usw. Es entstehen verschiedene AGs, so eine "Kinderarbeitsgruppe", eine "Theoriegruppe" u.a. Die Vorgänge im Haus der Jugend werden vorläufig nur noch von Weitem beobachtet und diskutiert, die Gruppe nimmt nicht mehr an den weiteren Auseinandersetzungen teil.

Sozusagen als Zusammenfassung der gemachten Erfahrungen im Jugendcafe gibt das Leitungsteam der evangelischen Jugend Anfang Februar 1974 das Papier "Jugendhaus in der Krise" heraus (2.2 Anlage 23), welches - allerdings verfälscht - auch in der lokalen Presse erscheint (2.2 Anlage 24).


2.2.8.2 Der Stadtjugendring

befindet sich mit den zunehmenden Problemen in und um das Haus der Jugend im Zugzwang. Zwar gibt es zu diesem Zeitpunkt keinerlei rechtlich verbindliche Organisationsform, aber mit dem Rückzug der evangelischen Jugend aus dem Projekt gilt der Stadtjugendring als "Hauptverantwortlicher" für die "Zustände" im Haus der Jugend. Aus den "Zuständen" zieht der Stadtjugendring-Vorsitzende Hof die Konsequenz und tritt am 14. 1. 1974 zurück. Bei seiner Rücktrittsbegründung bezeichnet er die Entwicklung im Jugendcafe als "einzige Enttäuschung" (2.2 Anlage 25a).

Zum neuen Vorsitzenden wird Josef Krischke von der katholischen Jugend gewählt. Auch er ist CDU-Mitglied, allerdings um einiges jünger als Hof, und hat bereits im Freundeskreis Kontakt mit dem Jugendcafe gehabt. In der ersten Vorstandssitzung nach der Neuwahl wird festgestellt, "daß niemand im Moment für das Jugendcafe verantwortlich ist, außer dem Stadtjugendring, der beim momentanen Zustand des Jugendcafes nicht in der Lage ist, die ihm entstandene Verantwortung weiter zu tragen" (aus dem Protokoll der Vorstandssitzung am 22. 1. 1974).

Obwohl der neue Vorsitzende in dieser Sitzung verspricht, "alle Gruppen zu hören, bevor irgendwelche Schritte unternommen werden" (aus ebendiesem Protokoll) schließt er am 5. 2. 1974 das Jugendcafe ohne Absprache mit allen Vorstandsmitgliedern (2.2 Anlage 25b).

An die Stadt Seligenstadt tritt der Stadtjugendring erstmals am 4. 2. 1974 mit der Bitte heran, für die Räume im Haus der Jugend einen Mietvertrag abzuschließen, wobei angestrebt wird, einen Vertrag für alle Räume im Parterre und ersten Stock zu erhalten, um diese dann weiterzuvermieten, die Parterreräume möglicherweise an eine sich institutionalisierende Aktion Jugendhaus. In einer mündlichen Vereinbarung wird dem Stadtjugendring diese Regelung zugesagt (mitgeteilt auf der Vorstandssitzung am 15. 5. 1974). An diese Zusage hat sich die Stadt nicht gehalten. Ein Mietvertrag wird erst am 1. 9. 1975, eineinhalb Jahre später, und ausschließlich für die Parterreräume, unter Ausschluß jeglicher Nutzungsmöglichkeit für offene Jugendarbeit, abgeschlossen.

Nach der Schließung des Jugendcafes am 5. 2. 1974 gibt es keinen offenen Jugendcafe-Betrieb mehr. Der Stadtjugendring gestattet jedoch der sich bildenden Aktion Jugendhaus die Nutzung der Räume aufgrund einmaliger Vereinbarungen, in der Hoffnung, es bilde sich ein Trägerverein, der dem Stadtjugendring die Verantwortung abnähme. Nach den im folgenden beschriebenen Ereignissen jedoch distanziert sich der Stadtjugendring endgültig von der Aktion Jugendhaus.


2.2.8.3 Die Parteien und Fraktionen

nehmen erst mit dem Auftauchen von Konflikten um das Jugendcafe und mit dem wachsenden Druck der Öffentlichkeit nach dem Rückzug der evangelischen Jugend aus dem Projekt das Haus der Jugend als Problem wahr. Während bis zum damaligen Zeitpunkt alle das Jugendhaus betreffenden Angelegenheiten sozusagen "intern" zwischen der CDU-Verwaltung, CDU-Stadtjugendringvorsitzendem und CDU-Freundeskreisvorsitzendem geregelt worden sind, fühlen sich, als das Jugendhaus-Projekt problematisch geworden ist, auch die SPD und FDP-Fraktionen gefordert. Ihre Patentlösung: Ein Sozialarbeiter muß her (2.2 Anlage 26). Diese im Januar/Februar gestellten Forderungen werden jedoch von der CDU-Mehrheit im April unter Hinweis auf die fehlenden Finanzen abgelehnt.

Als später die Aktion Jugendhaus durch die Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Bürgermeister und durch ihre sonstigen Aktionen in der Öffentlichkeit "immer mehr ins Zwielicht" (Schlagzeile) gerät, sind sich wieder alle Parteien einig gegen die Jugendlichen. Die FDP geht sogar soweit, ihren Antrag auf Einstellung eines Sozialarbeiters förmlich zurückzuziehen. Die SPD meint immerhin, "man müsse die Sachlage nochmals überdenken".


2.2.8.4 Die neue Aktivengruppe

hat sich in der Phase massiver werdender Konflikte im Inneren wie nach Außen straffer formiert und in einem internen Arbeitspapier ihre Position verdeutlicht (2.2 Anlage 27). Sie ergreift während des "Streiks" der alten Mitarbeiter die Initiative im Haus der Jugend und ruft zu einer "Umräumungsaktion" am ersten Streiktag auf. (2.2 Anlage 28)

Die neue Gruppe schafft es, ein vierzehntägiges Programm zusammenzustellen: An allen Weihnachtsfeiertagen laufen Filme, Parties und Diskussionen, an Sylvester findet eine große Feier statt, bei der es sogar gelingt, die Anwesenden zum gemeinsamen Reinigen und Aufräumen der Räume zu gewinnen. Es ergibt sich eine Verschiebung in der Zusammensetzung der Jugendhaus-Besucher: der Anteil von Arbeiterjugendlichen steigt an. Doch der Lichtblick ist nur kurzfristig: Nach dem vierzehntägigen Programm bricht die Initiative zusammen und das Fehlen jeglicher Organisation führt Anfang Februar zur Schließung der Räume durch den Stadtjugendring.

Im Anschluß an das Weihnachtsprogramm gibt die Gruppe eine "Jugendhaus-Dokumentation-Seligenstadt" heraus (2.2 Anlage 29), die bei einem Infostand auf dem Marktplatz verkauft werden soll. Der ordnungsgemäß gestellte Antrag auf Genehmigung der Straßenbenutzung für diesen Zweck wird von der Stadtverwaltung abgelehnt mit der Begründung, "daß entsprechende Aktionen nur in Übereinstimmung mit dem Stadtjugendring erfolgen können". Als die Aktion trotzdem durchgeführt wird, schreitet die Polizei ein. Ein Mitglied der Gruppe wird später mit einer Ordnungswidrigkeiten-Anzeige bedroht. Die Aktiven-Gruppe ihrerseits reagiert mit einer Dienstaufsichtsbeschwerde gegen Bürgermeister Brehm, da er "mit seinem Verbot bewußt die freie Meinungsäußerung eingeschränkt hat, da der Stadt bekannt war, daß die unorganisierten Jugendlichen keine Möglichkeit hatten, ihre Meinung in der regionalen Presse zu veröffentlichen" (Wortlaut der Beschwerde). Freilich wies die Kommunalaufsicht die Beschwerde als "unbegründet" zurück. Dieser Konflikt hat noch ein Nachspiel in Form von zwei Leserbriefen im örtlichen Anzeigenblatt. Dabei ist es der gleiche Ordnungsamt-Bedienstete, der früher unberechtigt in das Jugendcafe eingedrungen ist um Fotos für den Bürgermeister zu machen (siehe 2.2.6), der jetzt die Aktion Jugendhaus in der Öffentlichkeit in die Nähe von "linksradikalen Terrorgruppen, die nur auf Zerstörung aus sind" rückt (2.2 Anlage 30).

Im Februar 1974 wird der Verein "Aktion Jugendhaus Seligenstadt" gegründet. Dies sollte eine bessere Verhandlungsposition gegenüber der Stadt sichern, es ist jedoch - aufgrund formaler Mängel - nie zu einer amtsgerichtlichen Eintragung des Vereins gekommen. In den Vorstand werden überwiegend Mitglieder der neuen Aktivengruppe gewählt. Der Vorstand führt nun die Initiative dieser Gruppe fort.

Der Schwerpunkt der Arbeit des Vorstandes der Aktion Jugendhaus liegt in der Vorbereitung eines Info-Abends, der die Belange der Jugendlichen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich machen soll und am 22. 3. 74 im Haus der Jugend stattfindet. Obwohl sehr gut vorbereitet (Diaserie, Tonbandinterviews, intensive Werbung) erscheinen außer den Jugendlichen nur einige wenige Erwachsene. Über die Veranstaltung berichtet erstmals seit langem eine Zeitung wieder positiv: die Frankfurter Rundschau (2.2 Anlage 31)

Ein Schreiben der Aktion Jugendhaus an die Stadt, in der diese um "die Reservierung der Räume im Haus der Jugend für die Aktion Jugendhaus bis zu deren offiziellen Eintragung als Verein" gebeten wird, wird abschlägig beantwortet unter Hinweis darauf, "daß auf Veranlassung und Bestreben des Stadtjugendringes Seligenstadt das Haus der Jugend in Seligenstadt eröffnet wurde und der Magistrat nicht die Absicht hat, den Stadtjugendring Seligenstadt hier aus seiner Verantwortung zu entlassen". Aus diesem Grunde würden auch alle Vermietungen in Zukunft nur über den Stadtjugendring stattfinden. Auf einer Mitgliederversammlung der Aktion Jugendhaus wird daraufhin beschlossen, nicht in den Stadtjugendring einzutreten und die direkte Vermietung von der Stadt zu verlangen. Damit wird der in dem Konzept der neuen Aktivengruppe verankerte Weg der Konfrontation mit der Stadt eingeschlagen.

Die folgende Zeit steht im Zeichen der Vorbereitung einer Aktionswoche, die intensiv inhaltlich und organisatorisch geplant wird. Ziel der Aktionswoche soll ein besserer Rückhalt in der Bevölkerung sein und es sollen Bündnispartner gewonnen werden. Durch den Kontakt zur FDP-nahen Friedrich-Naumann-Stiftung, die sich der Aktion Jugendhaus angeboten hat, kann ein Faltblatt, aus dem das genaue Programm der Aktionswoche hervorgeht, in hoher Auflage erstellt und verteilt werden (2.2 Anlage 32). Auch die Presse reagiert in ausführlichen Vorankündigungen und Berichten (2.2 Anlage 33 2.2 Anlage 34 2.2 Anlage 35). Zu der Diskussionsveranstaltung "Entstehung und Entwicklung der Jugendhaus-Bewegung" am dritten Tag der Aktionswoche legt der Vorstand der Aktion Jugendhaus ein Arbeitspapier vor, aus dem der theoretische Hintergrund der Aktivengruppe ersichtlich ist (2.2 Anlage 36).

Die Aktionswoche findet ihren Höhepunkt am 31. 3. 1974 mit einer Bürgerversammlung, auf der die Forderungen der Aktion Jugendhaus mit der erhofften Unterstützung aus der Bevölkerung den Stadtverordneten und Magistratsmitgliedern vorgetragen werden sollen. Indes - weder der Magistrat noch die Massen aus der Bevölkerung erscheinen. Bürgermeister Brehm, kurz vor der Veranstaltung von der Presse dazu befragt, erklärt, er sei an der Veranstaltung nicht interessiert. Damit sind die Würfel mit dem Ende der Aktionswoche gefallen: Am auf die Bürgerversammlung folgenden Vormittag stehen die Jugendlichen, die sich zu einer Nachbesprechung im Haus der Jugend treffen wollen, vor verschlossener Tür. Der Magistrat hat endgültig entschieden: Die Räume des Jugendcafes werden von der Stadt geschlossen, die Verfügungsgewalt darüber vorläufig dem Stadtjugendring entzogen. Nach einer Renovierung sollen sie Jugendgruppen zur Verfügung gestellt werden, "die sich vorher anmelden müssen, mit der Maßgabe, die Räume so zu verlassen, wie sie angetroffen wurden" (Bürgermeister). In den nächsten fünf Jahren sei nicht daran gedacht, die Forderungen der Aktion Jugendhaus zu erfüllen (2.2 Anlage 37 ,2.2Anlage 38 ).

Die öffentliche Sitzung des Stadtparlaments am 11. 6. 1974 wird zum letzten Auftritt der Aktion Jugendhaus. Vor zahlreichen jugendlichen Zuhörern verkündet der Bürgermeister die Schließung des Hauses der Jugend. "Das Haus der Jugend in seiner alten oder bisherigen Form wird nicht wiederentstehen". Alle Fraktionen unterstützen den Bürgermeister in dieser Entscheidung. Ansonsten blieb die Sensation aus - die Jugendlichen störten die Parlamentssitzung nicht (Schlagzeile) (2.2 Anlage 39, 2.2 Anlage 40).

Den Schlußpunkt in dieser "wilden" Phase in der Geschichte des Hauses der Jugend setzt der Bürgermeister mit einem Interview in einer Sendung des hessischen Rundfunks, die drei Wochen nach der Stadtverordnetensitzung gesendet wird. Schönstes Zitat daraus: "Ich bin der Auffassung, daß es noch nicht einmal klug ist, auch für diese sogenannten Jugendlichen, wenn man nur die Wunsche erfüllt. Denn: Jugendliche, die keinen Wunsch mehr haben, die wissen später gar nemmer, was sie sich überhaupt noch wünschen sollen. Und das gibt immer die glücklichsten Menschen, die irgendwann im Leben einmal Entsagung üben mußten bei Zeiten. Denn dadurch lernen sie das Leben auch richtig kennen." (2.2 Anlage 41) Wie wahr !


2.2.9 Das Haus der Jugend ist "vorläufig" geschlossen 7/74 - 8/75

Nach der Schließung des Jugendcafes durch die Stadt im Juni/Juli 1974 wird es still um das Haus der Jugend. Die Aktivisten der Aktion Jugendhaus verlassen die Stadt, um in Frankfurt Studien aufzunehmen und den Schwerpunkt ihrer politischen Arbeit dorthin zu verlegen. Die Mitglieder der früheren Mitarbeitergruppe um die evangelische Jugend werden immer wieder gefragt, wann denn das Jugendcafe wieder aufmache - ihnen bleibt indes ein bloßes Achselzucken, denn auch sie wissen keine Antwort.

Auf eine Anfrage beim Stadtjugendring teilt dessen Vorsitzender lapidar mit, der Magistrat habe dem Stadtjugendring das Haus entzogen, nach einer Renovierung wolle sich die Stadt wieder melden. Es vergeht ein Jahr, bis diese Renovierung zum Abschluß kommt. Offensichtlich will die Stadt erstmal Gras über die Sache wachsen lassen, ehe eine neue Nutzung der Räume in Betracht kommt. Auch mit der Renovierung selbst werden die Spuren der Vergangenheit gründlichst beseitigt: Die selbstgebastelten Korblampen werden durch "ordentliche" Beleuchtungskörper ersetzt, wie man sie in jeder Toilette findet, die bunte Bemalung der Wände wird übertüncht. Die gesamte Einrichtung wird abtransportiert und durch Brauerei-Bestuhlung ersetzt. Dies führt schließlich zu einer Atmosphäre in den Räumen, die einen erstaunten Jugendlichen zu dem Ausruf veranlaßte: "Wie aufm Bahnhof, nur ohne Züge."


2.2.10 Wiedereröffnung mit "Benutzungs- und Vergabeordnung" 9/75 - 1/76

Am 1. 9. 1975, über ein Jahr nach dem Ende des Jugendcafes, kommt es zum Abschluß eines Überlassungsvertrages zwischen der Stadt und dem Stadtjugendring über die Erdgeschoßräume im Haus der Jugend. Der Vertrag ist von der Stadt diktiert worden und soll in restriktiver Weise verhindern, daß in den Räumen wieder eine offene Jugendarbeit entsteht. Die Räume dürfen nur noch an Mitgliedsverbände des Stadtjugendrings vergeben werden, bei "Zweckentfremdung" steht der Stadt das Recht zu, das Haus jederzeit zu schließen (2.2 Anlage 42). Auf der Grundlage dieses Vertrags erläßt der Stadtjugendring-Vorsitzende eine "Benutzungs- und Vergabeordnung" (2.2 Anlage 43)

Nicht nur macht sich der Stadtjugendring ohne Protest zum Erfüllungsgehilfen der Stadt, er geht sogar noch weiter und verbietet pauschal "Serienbelegungen", was heißt, daß über einen längeren Zeitraum jede kontinuierliche Arbeit, die ja eventuell zu einer offenen Arbeitsform führen könnte, im Keim erstickt wird.

Die erste Ausgabe des "Seligenstädter Jugend-Blatts", in der ein Artikel erscheint, der die aktuelle Situation des (immer noch geschlossenen) Hauses der Jugend aufgreift (2.2 Anlage 44), ist gerade im Druck, als die erste Veranstaltung im Haus der Jugend nach der Schließung des Jugendcafes angekündigt wird: Eine Disco-Party der Jungen Union (2.2 Anlage 45).

Im Oktober führt der Stadtjugendring im Rahmen seiner "Jugendleistungsschau" eine öffentliche Diskussionsveranstaltung zum Thema "Jugendarbeit in der Gemeinde" durch, die von den Stadtjugendring-Mitgliedern evang. und kath. Jugend, Kriegsdienstverweigerer und Junge Union / Jungsozialisten getragen wird. Von den Vertretern der Kriegsdienstverweigerer, Jungsozialisten und evangelischer Jugend werden die derzeit einengenden Nutzungsmöglichkeiten des Hauses der Jugend scharf kritisiert, während der Vertreter der Jungen Union meint, die Jugendpolitik in Seligenstadt sei ganz in Ordnung, ein Jugendhaus sei unrentabel. (2.2 Anlage 46 2.2 Anlage 47) Nach dieser Diskussion versuchen die im Stadtjugendring vertretenen "oppositionellen" Gruppen im Rahmen der beschränkten Möglichkeiten offene Angebote im Haus der Jugend zu organisieren. Jeder Termin muß beim Stadtjugendring einzeln beantragt und genehmigt werden, spontane Nutzung ist unmöglich; hinzu kommt, daß nur durch die Absprache der verschiedenen Gruppen untereinander eine Nutzung über mehrer Tage hinweg möglich wird, denn die "Serienbelegung" ist ja ausgeschlossen. Bei der evangelischen Jugend, bei den Jungsozialisten und bei den Kriegsdienstverweigerern sowie bei den neu entstandenen Initiativen Seligenstädter Jugend-Blatt, Arbeitskreis Dritte Welt und Amnesty International sowie dem Kreis der nicht-organisierten Jugendlichen, die durch das "Winterprogramm" 1975 dieser Gruppen angesprochen wurden, wächst die Einsicht, daß eine Änderung der einschränkenden Nutzungsordnung erreicht werden muß.


2.2.11 Der Kampf um die "Regelbelegung" 2/76 - 5/76

Im Februar 1976 wird erstmals zu einer "Jugendvollversammlung" eingeladen, auf der die Möglichkeiten einer sinnvolleren Nutzung des Hauses der Jugend diskutiert werden. Die etwa 40 angesprochenen Jugendlichen setzen die Versammlung auf zwei weiteren Treffen fort und als Ergebnis wird im März eine .Resolution verfaßt, die an Magistrat und Stadtjugendring gerichtet ist und über Presse und Info-Stände in die Öffentlichkeit getragen werden soll. In dieser Resolution wird von einer breiten Koalition fortschrittlicher Jugendgruppen sowie nicht-organisierter Jugendlicher die Vergabe der Erdgeschoßräume im Haus der Jugend an die im Stadtjugendring vertretenen Gruppen evangelische Jugend, Jungsozialisten und Kriegsdienstverweigerer gefordert, die dann in Zusammenarbeit mit anderen Gruppen und Interessierten eine offene Jugendarbeit in den Räumen verantworten sollen (2.2 Anlage 48 , 2.2 Anlage 49).

Nachdem die Resolution durch Presse und Straßenaktionen in der Öffentlichkeit ein Echo gefunden hat, wird zum 8. 4. 1976 zu einer öffentlichen Diskussion mit Vertretern der Vereine, Parteien und des Magistrats eingeladen. Außer zwei FDP-Stadtverordneten und dem Stadtjugendring-Vorsitzenden erscheint - wie üblich - kein Kommunalpolitiker. Immerhin kündigt letzterer an, das Thema werde demnächst auf Antrag der evangelischen Jugend im Stadtjugendring behandelt (2.2 Anlage 50).

"Im Dreck erstickt" - ein Artikel mit dieser Schlagzeile ist der Beitrag der Jungen Union zu den Forderungen der Jugendgruppen. Die Junge Union versucht, den verschiedenen Organisationen, die sich für offene Jugendarbeit einsetzen, unterzuschieben, sie wollten "nach dem Motto getrennt marschieren - gemeinsam zuschlagen" in einer "Globalstrategie gegen dieses System und seine Repräsentanten" den "alten Zustand vor der Schließung durch den Magistrat wiederherstellen". Die angegriffenen Gruppen nehmen dazu Stellung. (2.2 Anlage 51)

Am 3. 5. 1976 schließlich ist es soweit - die Stadtjugendring-Vollversammlung beschließt - zunächst probeweise - die Änderung der seitherigen Nutzungsordnung und führt eine fünftägige "Regelbelegung" ein, d.h. fünf Tage in der Woche werden fest an bestimmte Gruppen vergeben, die restlichen zwei Wochentage müssen wie seither einzeln beantragt werden. Die Junge Union meldet sich wieder zu Wort und meint "Skepsis ist angebracht" (2.2 Anlage 52). Die Neufassung der Benutzungs- und Vergabeordnung liegt nach den Sommerferien vor (2.2 Anlage 53).


2.2.12 Nichts mehr los im Haus der Jugend 6/76 - ?

Das ursprüngliche Ziel der neuerlichen Initiative für eine offene Jugendarbeit, nämlich die feste Vermietung der Räume an fortschrittliche Jugendorganisationen in Seligenstadt, ist in der Zwischenzeit fast vergessen worden. Was mit einem ungeheuren Aufwand an Öffentlichkeitsarbeit und Verhandlungen erreicht wurde, ist die minimale Lockerung der "Benutzungs- und Vergabeordnung" des Stadtjugendrings. Fatal, aber wahr: Was erreicht wurde, ist die Möglichkeiten der Nutzung der Erdgeschoßräume im Haus der Jugend wieder auf den Stand von 1961 zu bringen. Auch damals waren die Räume zu festgesetzten Zeiten an dem Stadtjugendring angeschlossene Vereine weitergegeben worden, und auch damals gab es so etwas wie eine Nutzungsordnung: "Veraltensregeln im Haus der Jugend". (2.2 Anlage 54)

Abgesehen davon, daß sich die strukturellen Voraussetzungen für eine offene Jugendarbeit mit einer nur geringfügig revidierten Benutzungsordnung kaum verbessert haben, fehlen in der Zwischenzeit auch die Aktiven, die offene Angebote verantworten könnten. So werden die Parterreräume im Haus der Jugend heute praktisch nur für Treffen von Vereinen und geschlossenen Gruppen genutzt, während sich die Jugendmusikschule bereits im 1. Stockwerk breitgemacht hat. Aber auch die wenigen offenen Veranstaltungen, die diese Gruppen noch organisieren, sind für breite Teile der Jugend in Seligenstadt offensichtlich und verständlicherweise nicht attraktiv. So bleibt man unter sich.

Nichts mehr los im HdJ - das ist auch das Resümee des Seligenstädter Jugend-Blattes nach fünf Jahren Jugendhausgeschichte (2.2 Anlage 55).


2.3 Der Konflikt zwischen dem Leitungsteam der evangelischen Jugend und dem Kirchenvorstand

2.3.1 Beauftragung des Leitungsteams 7/72 - 9/73

Am 6. 7. 1972 werden Hans-Joachim Greifenstein und Peter Heinrich als "Leitungsteam" der evangelischen Jugend vom Kirchenvorstand offiziell mit der Durchführung evangelischer Jugendarbeit beauftragt (2.3 Anlage 1)

Diese Arbeit liegt in den ersten Monaten schwerpunktmäßig bei der regelmäßigen Veranstaltung von Filmabenden in Zusammenarbeit mit der katholischen Jugend und in der Gründung der Projektgruppen Kriegsdienstverweigerung und Dritte Welt. Im November 1972 beginnt das Engagement des Leitungsteams im Projekt Jugendcafe im städtischen Haus der Jugend, welches im vorausgegangenen Kapitel dieser Arbeit ausführlich dargestellt wurde, und wird 1973 zum Schwerpunkt der Arbeit.

An den am 20. 5. 73 stattfindenden Kirchenvorstandswahlen beteiligt sich das Leitungsteam mit Wahlaufrufen an die von der Mitarbeit beim Konfirmandenunterricht bekannten Jugendlichen. Die Kandidaten und späteren Kirchenvorsteher werden laufend mit Rundschreiben vom Leitungsteam über die Arbeit informiert: Sie erhalten ein Thesenpapier zur Zielsetzung der evangelischen Jugend, welches im März 73 auf einem Seminar erarbeitet wurde (2.3 Anlage 2), sie werden zur öffentlichen Diskussion um das Jugendcafe (siehe Abschnitt 2.2.3) besonders eingeladen (2.3 Anlage 3a), sie werden zur Eröffnung des Jugendcafes am 19. 8. 73 gebeten und erhalten eine dazu erarbeitete Dokumentation (2.3 Anlage 3b).


2.3.2 Beginn des Konflikts 10/73 - 3/74

Ein erstes Gespräch mit dem neugewählten Kirchenvorstand strebt das Leitungsteam im Oktober 1973 an. In dieser Sitzung kommt es allerdings nicht zu dem erwarteten Dialog, sondern das Leitungsteam muß sich für seine Arbeit "rechtfertigen". Insbesondere geht es dabei um zwei Themen:

Der erste Kritikpunkt des neuen Kirchenvorstandes ist die Nutzung der kircheneigenen Räume durch die Kriegsdienstverweigerer-Gruppe. Diese war vom Leitungsteam initiiert worden und hatte sich seitdem regelmäßig in einem Raum neben dem Büro der evangelischen Jugend getroffen. Drei Wochen vor der Kirchenvorstands-Sitzung hatte sie sich als Ortsgruppe des Verbandes der Kriegsdienstverweigerer (VK) konstituiert, was jedoch weder inhaltlich noch organisatorisch viel an ihrer Arbeit änderte. Übel aufgestoßen war einem Kirchenvorsteher ein Flugblatt, das zum Stein des Anstoßes wurde. Darauf war als Adresse der Gruppe das Büro der evang. Jugend angegeben worden (2.3 Anlage 4). Dies wird zum Anlaß genommen, die Gruppe als "kirchenfremd" zu bezeichnen; ein Kirchenvorsteher, von dem die betreffenden Räume gemietet sind, befürchtet gar, sein Telefon könnte nun aufgrund der im Flugblatt angegebenen Adresse abgehört werden. Der Kirchenvorstand beschließt, daß sich die Gruppe nicht mehr in kirchlichen Räumen treffen darf.

Der zweite Punkt betrifft das Haus der Jugend, das sich zu dieser Zeit in seiner intensivsten Phase befand (vgl. Abschnitt 2.2.5). Mit der Arbeit im Jugendcafe wurden auch Jugendliche angesprochen, die nicht reibungslos in bürgerliche Normvorstellungen paßten. Dies äußert sich in der Kirchenvorstands-Sitzung in folgendem Echo: Es wird gefragt, ob die evangelische Kirchengemeinde Verantwortung übernehmen könnte, "wenn Verhaltensweisen praktiziert werden, die nicht gebilligt werden können". "Gewisse Bräuche" im Jugendcafe würden mit der evangelischen Gemeinde identifiziert. "Da sitzen Mädchen auf der Fensterbank und lassen ihre Beine heraushängen, wenn die Leute zur Kirche am Haus der Jugend vorbeigehen". Im Treppenhaus werde herumgeknutscht. Der Kirchenvorstand müsse jede Verantwortung ablehnen, "weil wir das Jugendcafe nicht im Griff haben". Das Leitungsteam muß sich verpflichten, sich so schnell wie möglich aus dem Projekt zurückzuziehen und dies auch öffentlich bekanntzugeben.

Im Februar, nachdem sich das Leitungsteam bereits aus dem Projekt zurückgezogen hat, legt die evangelische Jugend dem Kirchenvorstand die Arbeitsplanung für 1974 vor, verbunden mit der Bitte um einen Zuschuß in Höhe von 2500,- DM. (2.3 Anlage 5) Die Antwort des Kirchenvorstandes ist der Beschluß: "Alle Haushaltsmittel Jugendarbeit, soweit sie von dem Leitungsteam Greifenstein/Heinrich beansprucht werden, werden für 1974 vorläufig gesperrt. Die Sperrung bleibt solange aufrecht erhalten, bis in Zusammenarbeit mit dem Leitungsteam eine Konzeption der Jugendarbeit entwickelt worden ist, die von dem Kirchenvorstand gebilligt werden kann." Im März 1974 trifft das Leitungsteam mit dem Pfarrer zusammen, um über den entstandenen Konflikt zu sprechen. Das Treffen wird - wie schon die Kirchenvorstandssitzung - für das Leitungsteam inquisitorisch. Den Jugendlichen werden - wie bei einem Verhör - vorbereitete Fragen gestellt: Wie viele Besucher bei welchen Veranstaltungen, wie viele davon evangelisch, welche Teilnehmerbeiträge, welche Finanzierung. Das Leitungsteam gibt auf alle Fragen Auskunft, lehnt jedoch Angaben über die konfessionelle Zusammensetzung des Teilnehmerkreises aus prinzipiellen Gründen ab. Dem entspricht ein Verständnis von evangelischer Jugendarbeit, das sich nicht an der formellen Zugehörigkeit ihrer Adressaten zur evangelischen Kirche, sondern an ihren Inhalten festmacht. Die thematische Planung der Wochenendseminare (Januar 1974: "Jugendhausprobleme", Februar 1974: "Wohngemeinschaft als Form des Zusammenlebens") wird vom Pfarrer als zu einseitig "links- orientiert" abgelehnt. Die Arbeit des Leitungsteams sei außerdem "fast ausschließlich auf milieugeschädigte Jugendliche ausgerichtet". Der Beschluß der Haushaltssperre durch den Kirchenvorstand habe die Aufgabe, die evangelische Jugend von ihrer Einseitigkeit abzubringen.


2.3.3 Versuch der demokratischen Lösung des Konflikts 4/74 - 8/75

Das Leitungsteam versucht nun, den entstandenen Konflikt zu entpersonalisieren. Es strebt die Bildung einer Gemeindejugendvertretung an, wie sie in einer neuen Verordnung der Kirchenleitung vorgesehen ist. Aufgabe dieser Vertretung soll es sein, bei der vom Kirchenvorstand geforderten Einigung über ein Konzept der evangelische Jugendarbeit die Position der Jugendlichen als demokratisch legitimiertes Gremium zu vertreten. Im April 1974 kommt es zur Wahl, wobei jeweils vier Vertreter der "alten" evangelischen Jugend um das Leitungsteam und der "neuen" evangelischen Jugendgruppe, die der Pfarrer inzwischen aufgebaut hat, gewählt werden. Die Gemeindejugendvertretung erhält von der Jugendvollversammlung den Auftrag, eine Ordnung für die Jugendvertretung auszuarbeiten und mit dem Kirchenvorstand abzustimmen, um dann nach einer endgültigen Wahl die Konzeptdiskussion aufzunehmen.

Bereits kurz darauf wird der Entwurf einer Ordnung dem Kirchenvorstand vorgelegt (2.3 Anlage 6a). Fast ein halbes Jahr vergeht, bis das Gremium darauf reagiert: Im Oktober wird eine Ordnung verabschiedet, die allerdings in wesentlichen Punkten von dem Entwurf der Jugendlichen abweicht. Insbesondere soll nach den Vorstellungen des Kirchenvorstandes bei der Wahlberechtigung davon ausgegangen werden, daß nur evangelische Jugendliche wählen dürfen, was eine eindeutige Einengung der von der Kirchenleitung empfohlenen Mustersatzung entspricht. Aufgrund einer Stellungnahme des Amtes für Jugendarbeit der EKHN zu dieser Frage (2.3 Anlage 6b) bittet das Leitungsteam den Kirchenvorstand Ende 1974, wenigstens das aktive Wahlrecht nicht von der Konfession, sondern von der Zugehörigkeit zu Arbeitsformen evangelischer Jugendarbeit abhängig zu machen.

Es ist ein Jahr seit der Bildung der vorläufigen Gemeindejugendvertretung vergangen, als der Kirchenvorstand das Leitungsteam zur Einberufung einer erneuten Jugendvollversammlung zur endgültigen Wahl auffordert, ohne auf den Antrag zur Ordnungsänderung einzugehen. Außerdem wird mitgeteilt, daß das Leitungsteam 1975 keinerlei finanzielle Mittel der Kirchengemeinde erwarten kann (2.3 Anlage 7). Der Vorsitzende der Gemeindejugendvertretung und Mitglied des Leitungsteams fordert daher schriftlich eine Auskunft über den Stand der Beratungen über die vorgeschlagene Ordnungsänderung, sowie eine Begründung für die Mittelsperre an, worauf der Pfarrer mitteilt, daß über die Ordnung noch nicht endgültig beraten sei. Im Bezug auf die Haushaltssperre wird auf den immer noch bestehenden Beschluß vom Februar 1974 verwiesen (2.3 Anlage 8).

Nach den Sommerferien 1975 fordert der Pfarrer nochmals zur Wahl einer neuen Vertretung auf, ohne auf die immer noch nicht verabschiedete Ordnungsänderung einzugehen. Daraufhin bittet der Vorsitzende der Gemeindejugendvertretung um ein persönliches Gespräch, Diese Unterredung findet am 26. 8. 1975 statt. Der Pfarrer teilt mit, daß er kein Interesse mehr an der Arbeit des Leitungsteams habe, er wolle einen "großen Knall" vermeiden "und warte daher darauf, daß die Initiative von selbst einschläft". Die über ein Jahr dauernde Verzögerung des demokratischen Aufbaus der evangelischen Jugend durch den Kirchenvorstand wird so verständlich als eine Taktik, die eine Wahl der Jugendvertretung solange hinausschieben soll, bis das Leitungsteam von selbst ausscheidet. Aus dem Gespräch wird eine für das Leitungsteam unerwartete und erschreckende Wende in den Ansichten des Pfarrers deutlich. Kurz darauf wurde eine Gesprächsnotiz angefertigt, der man noch die tiefe Betroffenheit des Schreibers anmerkt (2.3 Anlage 9).


2.3.4 Veröffentlichung des Konflikts und Einlenken der Kirchengemeinde 10/75 - 2/76

Im Oktober 1975 erstellt das Leitungsteam eine Dokumentation über seine mit diesem Gespräch für beendet geglaubte Arbeit in Seligenstadt und verteilt sie auf der Dekanatssynode. Dieses Papier schafft eine zumindest kircheninterne Öffentlichkeit des Konflikts und soll angeblich über unbekannte Kanäle bis zur Kirchenleitung vorgedrungen sein (2.3 Anlage 10).

Für das Leitungsteam überraschenderweise lenkt die Kirchengemeinde daraufhin ein und bietet dem Leitungsteam ein gemeinsames Gespräch im Jugendausschuß an. Auf einer dieser Sitzungen legt das Leitungsteam auf Bitten der Kirchenvorsteher ein Papier "Zur Zielsetzung und Planung evang. Jugendarbeit 1976" vor, welches vier Vorhaben enthält:

- Ferienspiele (Stadtranderholung für Kinder) im Sommer

- ein Zeltlager

- Dritte Welt-Projektgruppe

- Weiterführung der Filmclub-Arbeit (2.3 Anlage 11)

Die Antwort des Kirchenvorstandes kommt umgehend: Keines der Vorhaben soll mit Kirchenmitteln finanziert werden. Er äußert sich insgesamt skeptisch zu den Projekten, unter anderen stellt er fest, daß "die Aktion Dritte Welt-Handel keine Jugendarbeit im Sinne kirchlicher Jugendarbeit ist". (2.3 Anlage 12)

Nach dieser Phase, die als erneute Verzögerungs- und Beschwichtigungstaktik des Kirchenvorstandes zu verstehen ist, reißt der Kontakt zwischen diesem und dem Leitungsteam wieder ab.


2.3.5 Formelles Verbot der Arbeit des Leitungsteams und Rehabilitation 2/76 - 1/77

Im Frühjahr 1976 setzt sich das Leitungsteam der evangelischen Jugend zusammen mit anderen Jugendverbänden aktiv für die Änderung der einschränkenden Benutzungsmöglichkeiten im städtischen Haus der Jugend ein (siehe Abschnitt 2.2.11), und unterschreibt mit diesen eine Resolution, die in der Presse und auf Infoständen in die Öffentlichkeit getragen wird.

Diese Aktivität nimmt der Kirchenvorstand zum Anlaß, unter Berufung auf das im Oktober 1973 ausgesprochene Verbot der Betätigung in Sachen Jugendhaus, dem Leitungsteam die Berechtigung, unter der Bezeichnung "evangelische Jugend" zu arbeiten, abzuerkennen. Mit Schreiben vom 8. 6. 1976 wird dies mitgeteilt (2.3 Anlage 13), eine Pressemeldung wird veröffentlicht, zu der das Leitungsteam Stellung nimmt (2.3 Anlage 14), dem Amt für Jugendarbeit und dem Dekanatsjugendwart wird mitgeteilt, daß das Leitungsteam keine Funktionen mehr wahrnehmen darf (2.3 Anlage 15 2.3 Anlage 16) . Erst durch die Überlassung von Kopien dieser letztgenannten Schreiben wird dem Leitungsteam der wörtliche Text der Beschlüsse bekannt, ihm selbst ist er nicht übermittelt worden.

Eine Woche später teilt der Pfarrer den Mitgliedern der Gemeindejugendvertretung mit, daß er sie als nicht mehr amtierend ansehe (2.3 Anlage 17), worauf der Vorsitzende Stellung nimmt (2.3 Anlage 18).

Aufgrund der existentiellen Tragweite dieses Beschlusses (beide Mitglieder des Leitungsteams beabsichtigen, Berufe im kirchlichen Bereich zu ergreifen), legt das Team umgehend Beschwerde gegen die Beschlüsse zum Dekanatssynodalvorstand ein und begründet diese sowohl inhaltlich als auch formal ausführlich (2.3 Anlage 19). Im August nimmt hierzu die Dekanatsjugendvertretung Stellung (2.3 Anlage 20). Für ein gemeinsames Gespräch zwischen den Parteien und dem Dekanatssynodalvorstand vor der Entscheidung legt das Leitungsteam eine ausführliche "Chronologie des Konflikts" vor. Zu diesem Gespräch kommt es allerdings nicht: Der Dekanatssynodalvorstand entscheidet bereits vorher aufgrund der rechtlich eindeutigen Situation (die Kirchengemeinde hatte den zwingend vorgeschriebenen Grundsatz des rechtlichen Gehörs verletzt) zugunsten der Einspruchführer. Der Beschluß des Kirchenvorstandes wird aufgehoben, ohne auf die inhaltlichen Bedenken des Leitungsteams, wie sie in der Begründung zum Ausdruck kommen, einzugehen. Allerdings kann man die rein auf formale Gesichtspunkte gestützte Entscheidung des Dekanatssynodalvorstandes durchaus als "Wink mit dem Zaunpfahl" verstehen (2.3 Anlage 21).

Der Kirchenvorstand verzichtet auf den Gang zur nächsten Instanz, der Kirchenleitung, und strebt ein Gespräch mit dem Leitungsteam an. Im Anschluß an diese im Januar 1977 geführte Unterredung faßt der Kirchenvorstand einen neuen Beschluß, in dem die "gesellschaftsorientierte" und an "Randgruppen der Gesellschaft ausgerichtete" Arbeit als mögliche Form evangelischer Jugendarbeit ausdrücklich anerkannt wird (2.3 Anlage 22). Aus den in diesem Schreiben erwähnten Aktivitäten wird allerdings nichts mehr: Das Leitungsteam löst sich im Anschluß an seine Rehabilitierung aufgrund von Studien auf. Heute gibt es eine evangelische Jugend in Seligenstadt, die voll unter der Kontrolle des Pfarrers steht. Eine erneute selbstbewußte und selbstorganisierte evangelischer Jugendarbeit ist nicht zu erwarten.

Zum Abschluß ein Zitat aus der 1969 erschienenen Broschüre "Evang. Dekanat Rodgau - die Gemeinden stellen sich vor" von dem Seligenstädter Pfarrer:

"...Eine Gemeinde, die sich so versteht, kann nicht uninteressiert sein; sie richtet sich auch nicht an der Vergangenheit aus, sondern steht mit beiden Beinen fest im Heute und blickt zuversichtlich auf die Aufgaben des Morgen. Jeder, der Lust und Freude daran hat, sich für andere, für die Allgemeinheit, einzusetzen, ist uns herzlich willkommen. Jeder, der Gemeinschaft sucht, ist eingeladen, daß die Gemeinde Jesu wirklich eine Gemeinschaft wird und so Gott im Heute lebendig werden läßt. Weil wir uns so verstehen, weil wir in vielen Fragen, auch in Glaubensfragen, in der Gemeinde ganz und gar nicht immer einer Meinung sind, darum wollen wir stets für den Andersdenkenden offen sein; darum sind wir aufgeschlossen für kritische Anstöße und jede Form dar Mitarbeit."


3. Jugendarbeitstheoretische Aspekte einer Analyse und Kritik der Praxis im Projekt Jugendcafe

Mit diesem Kapitel will ich versuchen, die Praxis der verschiedenen am Projekt Jugendcafe beteiligten Gruppen auf dem Hintergrund der jugendarbeitstheoretischen Diskussion näher zu bestimmen und zu kritisieren. Wenn sich auch die Diskussion um verschiedene "Ansätze" von Jugendarbeit vorwiegend im akademischen Raum abgespielt hat und nicht ohne weiteres auf die Praxis einer Jugendinitiative übertragbar ist, so liefert m.E. die Darstellung der in der Literatur vertretenen theoretischen Positionen durchaus interessante Aspekte zu einer Einordnung der sich u.U. widersprechenden Intentionen der am Projekt beteiligten Gruppierungen. Den Abschluß soll eine zusammenfassende Kritik bilden, die nochmals wesentliche Aspekte des Projekts aufgreift.


3.1 Die verschiedenen "Ansätze" in der Jugendarbeit und ihr theoretischer Hintergrund

Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, eine vollständige Darstellung und Bewertung der verschiedenen theoretischen Ansätze in der Jugendarbeit zu liefern. Ich will mich daher darauf beschränken, die wesentlichen Positionen vor allem anhand von Sekundärliteratur zu referieren und nur soweit auszuführen, wie es für das Verständnis der darauf folgenden Kritik der Praxis der am Projekt beteiligten Gruppen erforderlich ist.


3.1.1 Traditionelle Jugendarbeit

Es gibt keine systematische Theorie traditioneller Jugendarbeit, jener Jugendarbeit also, die sich durch unkritische Anpassung der Jugendlichen an bestehende Strukturen auszeichnet - seien es nun partikulare Vereins-, Verband-, oder Organisationsformen oder die bestehende politische und ökonomische Struktur schlechthin.

Um so verbreiteter ist jener Typ der Jugendarbeit jedoch in der Praxis: Die staatliche Jugendpflege, die sich weithin noch als "Staatsbürgerkunde" versteht, oder über eine reine Bewahrfunktion in den Häusern der offenen Tür nicht hinauskommt, ebenso wie die freien Träger, denen das eingegrenzte Verbandsinteresse über die Interessen der Jugendlichen geht, deren Bedürfnisse funktionalisiert werden, um die ausreichende Rekrutierung der Erwachsenen-Organisation zu sichern.

Burkhard Bierhoff bemerkt zu diesem Ansatz: "Indem die konservative Jugendarbeit durch autoritär-repressive Indoktrination emanzipatorische Entwicklungen schon im Ansatz unterbindet, hat sie faktisch die Funktion einer Sozialisationsinstanz, die durch die Produktion vernebelten, unkritischen Bewußtseins rational abweichendem Verhalten vorbeugen will und durch die Etikettierung dieser Gesellschaft als 'prinzipiell demokratisch', 'sozial gerecht' und 'chancengleich' deren status quo zu konservieren bedacht ist." [Burkhard Bierhoff, Theorie der Jugendarbeit, Lollar bei Giesen 1974, S. 25]

Seydel bezeichnet die traditionelle Jugendarbeit als "sozial-integrativen Ansatz" [Otto Seydel, Kirchliche Jugendarbeit, Stuttgart 1974], womit angesprochen wird, daß ein wesentliches Ziel die Integration in spätere Erwachsenen-Rollen darstellt: Es gilt, die Rechte und Pflichten innerhalb der Familie, am Arbeitsplatz und in Politik und Gesellschaft so wahrzunehmen, daß die ständige Reproduktion der bestehenden Gesellschaftsstrukturen gewährleistet ist.


3.1.2 Progressive Jugendarbeit

Den ersten Versuch, eine zusammenhängende Theorie des Feldes Jugendarbeit zu konzipieren, wurde 1964 von Müller/Kentler/Mollenhauer/Giesecke unternommen [Müller/Kentler/Mollenhauer/Giesecke, Was ist Jugendarbeit? München 1964]. Sie grenzen sich darin bewußt von der traditionellen Jugendarbeit ab. Nicht mehr die kritiklose Anpassung an vorgefundene gesellschaftliche Strukturen steht im Mittelpunkt, sondern die 'engagierte kritische Aufklärung' über Anspruch und Realität einer demokratischen Gesellschaft, in dem 'Mündigwerden' der jungen Generation, in der Vermittlung von Sicherheit und Selbstbewußtsein gegenüber der gesellschaftlichen Umwelt und nicht zuletzt darin, die 'Überanpassung der Jugendlichen zu entkrampfen'[Deppe-Wolfinger, Arbeiterjugend - Bewußtsein und politische Bildung, Frankfurt 1972, S. 20f.].

Mit den "Vier Versuchen zu einer Theorie der Jugendarbeit" wurde erstmals der Rahmen einer Jugendarbeit überschritten, die die Jugendlichen zu offensichtlichen Objekten fremdbestimmter Anpassung degradierte. So sehr es anerkannt werden muß, daß mit der Ausrichtung der Jugendarbeit auf die Jugendlichen selbst und in der Abkehr von bornierten Anpassungskonzepten eine neue Qualität in die jugendarbeitstheoretische Diskussion kam, so sehr muß die politische Blindheit der Autoren kritisiert werden. So findet sich selten eine Differenzierung der Aussagen auf verschiedene Zielgruppen Jugendlicher. Der ökonomisch-gesellschaftliche Status der Jugendlichen kommt kaum in den Blick, die "progressive" Jugendarbeit bleibt isoliert im Freizeitbereich angesiedelt. Der Grundwiderspruch einer kapitalistischen Gesellschaft zwischen gesellschaftlicher Produktion und privater Aneignung, zwischen Lohnabhängigen und Produktionsmittelbesitzern, der sich entscheidend auf die gesamte Lebenswirklichkeit auswirkt, wird geleugnet. Statt dessen erscheint ein konstruierter Widerspruch zwischen demokratischem Selbstanspruch und schlecht geratener Wirklichkeit.

Die ausschließliche Orientierung an einem individualistischen Emanzipationsbegriff, der mit Lernzielen wie 'Mündigkeit', 'Selbstständigkeit', 'Entscheidungsfähigkeit', 'Soziabilität', 'Kreativität' und 'Spontaneität' Umschrieben wird, führt zu einer folgenschweren Ausblendung der objektiven Lebensbedingungen der jeweiligen Adressaten.

Nando Belardi hat m.E. recht, wenn er diese Theorien als "subjektivistisch" bezeichnet und ihnen eine system-integrierende Wirkung zuweist: "Indem man sich abstrakt und unhistorisch aufs Subjekt bezog, sollten die Teilnehmer dem Objektiven angepaßt werden... Als Hauptfunktion subjektivistischer politischer Bildung läßt sich - unabhängig vom ehrlichen Bemühen ihrer Theoretiker - demnach die These formulieren, daß sie vom Objektiven abzulenken hat. Sie soll den Subjekten durch vordergründiges Eingehen auf ihre 'hier-und-jetzt'- Interessen den Schein der Autonomie vermitteln, um sie noch besser an die existierenden gesellschaftlichen Verhältnisse anzupassen." [Nando Belardi, Erfahrungsbezogene Jugendbildungsarbeit, Lollar bei Gießen, 1975 S. 99]


3.1.3 Antikapitalistische Jugendarbeit

Die Negierung der spezifischen Widersprüche des Kapitalismus durch die Vertreter der "progressiven" Jugendarbeit hatte ihren Grund in der gesellschaftlichen Entwicklung der BRD Ende der fünfziger / Anfang der sechziger Jahre. Das "Wirtschaftswunder", die scheinbar für alle Bevölkerungsgruppen bestehende Chancengleichheit, ließ die bürgerlichen Soziologen von der Auflösung bestehender Schichtunterschiede hin zu einer 'nivellierten Mittelstandsgesellschaft' sprechen. Helga Deppe-Wolfinger beschreibt diesen Sachverhalt treffend: "Solange die politische und ökonomische Entwicklung in der Bundesrepublik durch relative Stabilität gekennzeichnet war, sah auch die progressive, der 'Emanzipation' verpflichtete Jugendarbeit kaum Anlaß, den kapitalistischen Verwertungsprozeß in Frage zu stellen oder auch nur zum Inhalt ihrer Theorie zu machen." [Deppe-Wolfinger a.a.O. S. 49]

Die Wirtschaftskrise 1966/67 und ihre Folgen wie Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit und die anschließende Studenten-, Schüler- und Lehrlingsbewegung brachte eine radikale Infragestellung vorliegender Bildungstheorien auch im Bereich der Jugendarbeit mit sich. Der profilierteste Vertreter des neuen, 'antikapitalistischen' Ansatzes dürfte Manfred Liebel sein, dessen "Aufforderung zum Abschied von der sozial-integrativen Jugendarbeit" im Januar 1970 in der "deutschen jugend" erscheint. In diesem Aufsatz, der die Kontroverse um das politische Verständnis der Jugendarbeit einleitet, bezeichnet Liebel die theoretischen Positionen Müller/Kentler/Mollenbauer/Gieseckes als "progressive Variante sozial-integrativer Jugendarbeit" [Manfred Liebel, Aufforderung zum Abschied von der sozial-integrativen Jugendarbeit, in: deutsche Jugend (1970) Nr. 1, S. 29]. Indem sie ein einheitliches Jugendinteresse unterstelle und nicht die Jugendlichen in ihrer Zugehörigkeit zu der jeweiligen sozialen Klasse betrachte, wirke sie faktisch system-stabilisierend. Indessen fordern die Vertreter der antikapitalistischen Jugendarbeit die Unterstützung der Jugendlichen bei der Wahrnehmung ihrer Klasseninteressen und damit die Überschreitung der Beschränkung auf den Freizeitbereich. Diese Forderung fußt auf einer vorgängigen polit-ökonomischen Analyse der gesellschaftlichen Herrschaftsverhältnisse. Zielgruppe antikapitalistischer Jugendarbeit sind in erster Linie Arbeiterjugendliche, denen zur kollektiven Emanzipation, d.h. zur gemeinsamen politischen Praxis mit dem Ziel der Umwälzung der gesellschaftlichen Verhältnisse verholfen werden soll. Erst in zweiter Linie sollen bürgerliche Jugendliche angesprochen werden, denen dann die Notwendigkeit der Unterstützung der Arbeiterklasse in ihren Kämpfen bewußt gemacht werden soll.

Wenn damit auch eine wesentliche Grundlage für die Entwicklung gesellschaftskritischer Konzepte von Jugendarbeit gelegt wurde, so blieben die antikapitalistischen Theoretiker eine Antwort auf die Frage nach der Praktikabilisierung schuldig. Nando Belardi schreibt: "Sie (die antikapitalistischen Theoretiker) setzen abstrakte, für Jugendliche unerreichbare Lernziele wie: Klassenkampf, Revolution und Organisierung." [Belardi a.a.O. S. 84] "Liebel ist dem Leser in diesem wie auch in anderen Aufsätzen eine konkrete Beschreibung antikapitalistischer Jugendarbeit mit allen Bedingungen der Lernsituation schuldig geblieben." [Belardi a.a.O. S. 85]


3.1.4 Emanzipatorische Jugendarbeit

Etwas später, als die Diskussion um die antikapitalistische Jugendarbeit bereits in vollem Gange war, legte Giesecke mit seinem 1971 erschienenen Buch "Die Jugendarbeit" den wohl ausgeprägtesten Entwurf zu einer emanzipatorischen Jugendarbeit vor [Hermann Giesecke, Die Jugendarbeit, München 1971]. Giesecke konnte dabei die Kritik der antikapitalistischen Theoretiker zur Kenntnis nehmen und in seinem Ansatz miteinbeziehen - wenn er auch, wie Burkhard Bierhoff schreibt, "zwar im Vergleich zu den sogenannten progressiven Ansätzen die politische Dimension stärker einbezog, aber den konsequenten kritisch-revolutionären Ansatz der antikapitalistischen Jugendarbeit entschärfend verneint und den widersprüchlichen Charakter der gesellschaftlichen Realität des Kapitalismus auf den angeblichen Grundwiderspruch von 'bisheriger Erziehung und gesellschaftlichem Selbstanspruch nach zunehmender Demokratisierung' bezieht" [Bierhoff a.a.O. S. 13]. Hier nähert sich die Position Gieseckes wieder dem 1964er Ansatz, wie ihn vor allem Kentler formulierte.

Giesecke will seinen Emanzipationsbegriff in Weiterentwicklung der progressiven Jugendarbeit nicht nur individuell verstanden wissen, er ist für ihn ein "politischer Begriff, er zielt auf gesellschaftliche Veränderungen zum Zweck der Abschaffung einseitiger Abhängigkeiten und Unterprivilegierungen und damit auf einen Zuwachs an Demokratisierung" [Giesecke a.a.O. S. 147] Eine Antwort auf die Frage, wie dies konkret geschehen soll und vor allem eine Analyse der gesellschaftlichen Kräfte, die einen Zuwachs an Demokratisierung konsequent verhindern, ist er jedoch schuldig geblieben. Zwar benennt er als Ansatzpunkte für eine emanzipatorische Praxis "Widersprüche und Konflikte", die als "gesellschaftlich vermittelte und bedingte interpretiert werden" sollen [Giesecke a.a.O. S. 151], auf der anderen Seite lehnt er jedoch die Polit-Ökonomie als Grundlage einer Analyse der gesellschaftlichen Bedingungen als "wenig ergiebig" ab [Giesecke a.a.O. S. 145].

Giesecke differenziert in seinem Ansatz - wie die "progressive Jugendarbeit" auch - nicht im Hinblick auf die jeweilige Zielgruppe. Indem er jedoch keine adressatenspezifische Konkretisierung seiner Aussagen liefert, verkennt er den Einfluß der schichtenspezifischen Lebensumstände der Jugendlichen auf ihre Bedürfnisse und Interessen. Auch wenn es begrüßenswert ist, daß Giesecke versucht hat, über den individual-emanzipatorischen Ansatz der progressiven Jugendarbeit hinaus gesellschaftskritische Aspekte in seinen emanzipatorischen Anspruch zu integrieren, so bleibt er letztlich in der konsequenten Verneinung einer materialistischen Gesellschaftsanalyse deren Tradition verhaftet [vgl. Bierhoff a.a.O. S. 107].


3.1.5 Weiterführende Ansätze

In den letzten Jahren hat sich die Diskussion um theoretische Ansätze und praktische Handlungskonsequenzen in der Jugendarbeit über die drei "Grundtypen", der traditionell-konservativen, der progressiv-bürgerlich- emanzipatorischen und der antikapitalistischen Jugendarbeit hinaus in differenzierter Form fortgesetzt. Leitendes Motiv dieser neueren Arbeiten ist es, einerseits auf der Grundlage einer materialistischen Analyse der gesellschaftlichen Verhältnisse in der BRD eine antikapitalistische Position zu beziehen, andererseits praktikable pädagogische Strategien zu entwickeln, die eine Umsetzung des politischen Anspruchs in konkrete Praxis ermöglichen.


3.1.5.1 Burkhard Bierhoffs "kritisch-emanzipative" Jugendarbeit

Bereits 1974 erschien Bierhoffs Arbeit, in der er eine sehr überschaubare Darstellung der verschiedenen bereits vorliegenden theoretischen Ansätze in der Jugendarbeit liefert, aus der ich schon oben zitiert habe. Seine Absicht ist es, aus der kritischen Sichtung der bereits entwickelten Theorien positive Elemente für eine neu zu konzipierende "kritisch-emanzipative" Jugendarbeit herauszufiltern. "Der spezifische Ansatzpunkt für diese alternative Konzeption liegt in der Vermittlung der pädagogischen Ansätze sog. progressiver und bürgerlich-emanzipatorischer Jugendarbeit einerseits und der politischen Ansätze antikapitalistischer Jugendarbeit andererseits mit dem Ziel, sowohl die politische Blindheit und den Konservatismus der progressiv-bürgerlich-emanzipatorischen Ansätze als auch die mangelnde pädagogische Perspektive des antikapitalistischen Ansatzes zu Überwinden" [Bierhoff a.a.O. S. 111].

Leider bleibt der konstruktive Teil seines Buches, mit dem er sich um dieses Ziel bemüht, abstrakt und praxisfern. Dadurch, daß Bierhoff in keiner Weise die konkreten Bedingungen politischer Pädagogik beschreibt, ist in seinem Ansatz m.E. außer dem Hinweis, daß eine Vermittlung einer antikapitalistischen Position in pädagogische Handlungszusammenhänge prinzipiell notwendig ist, kein praxisrelevantes Element zu finden.


3.1.5.2 Diethelm Damms "politische" Jugendarbeit

Damm versteht "Emanzipation als einen Prozeß, in dem der einzelne in den Stand versetzt wird, die Triebansprüche und die Verhaltensanforderungen der Außenwelt soweit wie möglich kritisch zu prüfen und entsprechend handeln zu können..." [Diethelm Damm, Politische Jugendarbeit, München 1975 S. 27]. Dabei bleibt er nicht bei einem subjektivistischen Bedürfnisbegriff stehen. Vielmehr stellt er fest, daß "in subjektiven Bedürfnisartikulationen immer auch Elemente des objektiven Interesses vorhanden sind, wie das gleiche auch umgekehrt gilt." [Damm a.a.O. S. 50] Er wendet sich gegen eine konstruierte Trennung zwischen den "Interessen" der Jugendlichen, die das "Eigentliche" antikapitalistischer Pädagogik darstellten, und ihren Bedürfnisäußerungen, die bestenfalls in den Bereich strategischer Ansatzpunkte verbannt werden.

Er entwickelt dann einen differenzierten Katalog von "Bedürfniskomponenten", die zwar je nach der sozialen Herkunft der Jugendlichen unterschiedlich ausgeprägt sind, jedoch als Ansatzpunkt jeglicher politisch-emanzipatorischer Bildungsarbeit gelten können: "Das Bestreben, etwas zu bewirken", "das Bedürfnis nach Orientierung", "das Bedürfnis nach sozialer Anerkennung", "das Bedürfnis nach Anregungen und vielfältigen Erfahrungen", "das Bedürfnis nach Sicherheit und Solidarität", "das Bedürfnis nach Selbstbestimmung, Sicherheit und Wohlbefinden". Entscheidend ist nach Damm, in welcher Weise diese Bedürfniskomponenten aufgenommen werden: In der traditionellen Jugendarbeit bis hin zum bürgerlich-emanzipatorischen Typ in der systematischen Reduktion der Bedürfnisse auf eine subjektive, systemstabilisierende Ebene, oder aber in einer auf allseitige Demokratisierung ausgerichteten emanzipatorischen Weise, die die Jugendlichen befähigt, ihre Bedürfnisse und Interessen als Ausdruck ihrer Klassenzugehörigkeit zu erkennen und wahrzunehmen. Dazu fordert er eine "beständige theoretische und praktische Auseinandersetzung mit dem tatsächlichen Lebensprozeß der Jugendlichen [Damm a.a.O. S. 35].


3.1.5.3 Nando Belardis "erfahrungsbezogene" Jugendarbeit

Belardis Position entspricht im Wesentlichen der Damms, wenn auch dieser sich vorwiegend auf Jugendclubs und Jugendzentren bezieht, während Belardi als Praxisfeld Seminarveranstaltungen mit Hauptschülern im Auge hat.

Gemeinsam ist beiden Autoren der Rückbezug auf Wilhelm Reich, wenn sie die Lernziele einer klassenadäquaten Bildungsarbeit beschreiben: "1. Kenntnis der eigenen Lebensbedingungen auf allen Ebenen; 2. die Kenntnis der Wege und Möglichkeiten ihrer Befriedigung; 3. die Kenntnis der Hindernisse, die die privatwirtschaftliche Gesellschaftsordnung ihr in den Weg legt; 4. die Kenntnis der eigenen Hemmungen und Ängste, sich über die Notwendigkeiten des eigenen Lebens und ihrer Hindernisse klarzuwerden; 5. die Kenntnis der Unüberwindlichkeit der eigenen Kraft gegenüber der Macht der Unterdrücker im Falle ihrer massenmäßigen Zusammenfassung." [Wilhelm Reich, Was ist Klassenbewußtsein ?, Kopenhagen 1954 und Amsterdam 1968; zit. nach Damm a.a.O. S. 51 und Belardi a.a.O. S. 58]

Belardi fordert sozusagen ein "induktives Prinzip" in einer antikapitalistiscben, pädagogisch verantworteten Jugendarbeit: Von den Detailerfahrungen soll auf die gesellschaftliche Totalität geschlossen werden. "Wenn Klassenbewußtsein sich schon bei erwachsenen Proletariern nicht mechanistisch aus der Klassenlage ergibt, so ist insbesondere bei jungen Proletariern - die als Hauptschüler kaum Produktionskontakte haben - verstärkt auf deren subjektive Erfahrung zurückzugreifen, um im Medium dieser Erfahrungen gesellschaftliche Realität zu konstruieren. Deshalb hat außerschulische Jugendbildung familiäre und schulische Erfahrung aufzugreifen um diese in ihrer gesellschaftlichen Bedingtheit den Subjekten zu vermitteln." [Belardi a.a.O. S. 58]

Ansätze dazu bieten die ökonomischen Lebensbedingungen der Eltern, ihr Erziehungsverhalten, die Situation in der Schule und in anderen Bereichen unmittelbarer Erfahrung, deren Aufarbeitung ein Bewußtsein für die objektive Lebenssituation und die Interessen der Jugendlichen fördert. Belardis Ansatz erinnert an Paolo Freires Strategie der consientizacao (Bewußtmachung) [Paolo Freire, Pädagogik der Unterdrückten, Stuttgart 1971].


3.2 Die Intentionen und die Praxis der verschiedenen am Projekt Jugendcafe beteiligten Gruppen

In diesem Abschnitt sollen die einzelnen Gruppen, die sich am Projekt Jugendcafe mit durchaus unterschiedlichen Intentionen und Interessen beteiligt haben, auf dem Hintergrund der oben dargestellten Theoriediskussion eingeschätzt werden. Dazu beziehe ich mich auf die im Praxisteil ausführlich geschilderten Vorgänge. Die einzelnen Gruppen sollen in der Reihenfolge aufgeführt werden, in der sie mit dem Projekt in Berührung kamen.


3.2.1 Die Stadtverwaltung und der Magistrat

Der Magistrat der Stadt Seligenstadt faßte im September 1972 den Beschluß, die Räume im Haus der Jugend wieder dem Stadtjugendring zur Verfügung zu stellen und schaffte damit die erste Voraussetzung für das spätere Projekt. Die Stadt tritt in der folgenden Zeit - bis zur Schließung des Jugendcafes - so gut wie nie offen in Erscheinung. Das heißt jedoch nicht, daß sie keine genauen Vorstellungen hätte, welche Jugendarbeit in den Räumen geschehen soll, oder daß es ihr egal wäre, wie die Räume genutzt werden. Der Grund, warum sie keinerlei Auflagen macht und noch nicht einmal eine vertragliche Vereinbarung abschließt, liegt in der zu diesem Zeitpunkt völlig außer Frage stehenden Funktionalität der Politik des Stadtjugendrings für die Stadt und in der besonderen persönlichen Integrität des ersten Vorsitzenden begründet. Erst als Probleme auftreten und deutlich wird, daß das Jugendcafe sich von der "ordnungsgemäßen" Betreuung Jugendlicher durch erwachsene Vereinsvertreter absetzt, als Gerüchte von Rauschmittelgebrauch, sexuellen Ausschweifungen und linksradikalen Terrorgruppen in der Stadt die Runde machen, sieht sich der Magistrat gezwungen, mit empfindlichen Maßregelungen einzugreifen. Im "Jugendhaus-Möbel-Konflikt" demonstriert die Stadt zum ersten Mal offen ihre Stärke.

Als die evangelische Jugend aus dem Projekt aussteigt und der Stadtjugendringvorsitzende zurücktritt, ist im Grund die Entscheidung der Stadtverwaltung gefallen: Die Bitten des neuen Stadtjugendring-Vorstandes auf Abschluß eines Nutzungsvertrages bleiben vorläufig unbeantwortet und als die Aktionswoche der Jugendlichen gezeigt hatte, wie gering ihr Rückhalt in der Öffentlichkeit tatsächlich ist, wird der "Spuk" durch die Schließung des Hauses ein für alle mal beseitigt, ohne daß größere Proteste zu befürchten sind.

Danach läßt die Stadt die Angelegenheit erst mal in Vergessenheit geraten, und als sie sicher ist, daß alle Spuren der Vergangenheit beseitigt sind, vergibt sie die Räume wieder an den Stadtjugendring. Diesmal allerdings mit einem Nutzungsvertrag, den sie diktiert und der alle Ansätze einer kontinuierlichen, über den Rahmen traditioneller Jugendbetreuung hinausgehenden Jugendarbeit von vornherein unmöglich macht.

Es bedarf keiner weiteren Analysen, um die Position der Stadt als ausgesprochen konservativ einzustufen, mit dem Zusatz, daß sie es überhaupt nicht nötig hat, für die Verwirklichung ihrer jugendpolitischen Intentionen selbst Sorge zu tragen - etwa durch die Einstellung eines magistratshörigen Jugendpflegers. Sie hat dazu ja den Stadtjugendring, der sich als Erfüllungsgehilfe ihres traditionellen kommunalen Jugendarbeitskonzeptes geradezu anbietet.


3.2.2 Der Stadtjugendring

Auf die Zusammensetzung der Mitgliederversammlung des Stadtjugendrings bin ich im Praxisteil schon ausführlich eingegangen: die überwiegende Mehrheit haben Vereinsvertreter aus Organisationen, deren Zweck ausgesprochen partikulare Bereiche erfaßt und deren Konzept ohne Frage traditionell sozial-integrativ einzustufen ist.

Wie kommt aber nun der Stadtjugendring eigentlich dazu, den Impuls für das Jugendcafe zu geben, das ja aus dem Rahmen der Vereinsjugend herausfällt ? (Es war zweifellos der Stadtjugendring, von dem diese Idee ausging, die dann erst von der evangelischen Jugend aufgegriffen wurde.) Zum einen hängt dies m.E. mit der faktischen Funktionslosigkeit des Stadtjugendrings zusammen - die Jugendbetreuung in den angeschlossenen Verbänden läuft bestens ohne seine Mitarbeit, und so beschränkt sich der Stadtjugendring auf die Verteilung von Zuschüssen. Mit dem Projekt Jugendcafe konnte sich der Stadtjugendring - und mit ihm sein Vorsitzender - in der Öffentlichkeit profilieren und demonstrieren, daß er eine wichtige Aufgabe wahrnimmt.

Der andere, wesentlichere Aspekt scheint mir die Entdeckung des Problems der "nicht-organisierten" Jugendlichen durch den Stadtjugendring zu sein. In einer Stadt, die stolz darauf ist, daß sich angeblich für jedes Interesse ein Verein finden läßt, wo man es wahrnehmen kann, muß die Existenz von Jugendlichen, die nicht in diese Strukturen integriert sind, Verunsicherung hervorrufen. Das Anliegen des Stadtjugendrings ist es offensichtlich, ein Angebot für diese "noch-nicht-Integrierten" zu machen und sie über den Umweg eines offenen Treffpunkts doch in konforme Strukturen einzubeziehen.

Die evangelische Jugend sah man als Garant dafür, daß dieses Ziel erreicht wird - und mit ihrem Bemühen um "Organisationsstatute", "Thekendienste " und "Aufräumgruppen" erfüllte sie diese Erwartungen auch zunächst. Der Stadtjugendring war immer an eine starke Bindung des Jugendcafes an die evangelische Jugend interessiert - das heißt an das Leitungsteam - im Gegensatz zu diesem selbst, das die Selbstorganisation der Jugendlichen zum Ziel hatte. Beispielhaft ist dafür das vom Stadtjugendring-Vorsitzenden vorgelegte Organisationsstatut, das der evangelischen Jugend eine festgeschriebene Mehrheit im Jugendrat sichern sollte.

Als sich zeigt, daß das Projekt nicht mehr unter der Kontrolle des Stadtjugendrings und der evangelischen Jugend ist, und auch die Stadt verstärkt Druck ausübt, versucht dieser zunächst, das Jugendcafe von seiner Organisation abzutrennen und sich damit des Konflikts zu entledigen. Doch die Stadt "entläßt den Stadtjugendring nicht aus seiner Verantwortung" (aus einem Schreiben des Bürgermeisters an die Aktion Jugendhaus). Als es zum offenen Bruch zwischen Jugendlichen und Stadt kommt, distanziert sich der Stadtjugendring sofort von der Aktion Jugendhaus und vertritt die Position der Stadt.

Auch bei dem späteren Kampf um die Regelbelegung" tritt der Stadtjugendring - wie gewohnt - als Pufferinstitution zwischen Jugendgruppen und Stadt auf und erfüllt mit der Erstellung der "Benutzungs- und Vergabeordnung" die Erwartungen der Stadt vollstens.

Für den Stadtjugendring war das Projekt Jugendcafe solange interessant, wie es seine Hoffnung nährte, die Jugendlichen, die nicht in bestehende Organisationen integriert waren, von der Straße wegzubekommen, institutionell zu erfassen, und "sinnvoll" zu beschäftigen. Dies entspricht einem voll ausgeprägten sozial-integrativen Ansatz.


3.2.3 Die evangelische Jugend

Die evangelische Jugend ergriff die Initiative und nahm das Angebot des Stadtjugendrings zur Gestaltung von Räumen im Haus der Jugend wahr, ohne selbst bereits ein ausformuliertes Konzept für ein Jugendcafe zu haben. Die Struktur dieser Gruppe ist nicht leicht zu beschreiben und hat sich im Verlaufe des Projekts mehrfach verändert. Der Impuls kam vom "Leitungsteam", den beiden Jugendlichen, die vom Kirchenvorstand mit der Initiierung evangelischer Jugendarbeit beauftragt waren und die evangelische Jugend im Stadtjugendring vertraten. Dadurch waren sie, auch durch die Mitgliedschaft im Vorstand des Stadtjugendrings, mit diesem durch ständige persönliche Kontakte eng verbunden und boten gewissermaßen die Gewähr für den "ordnungsgemäßen" Ablauf des Projekts.

Die zweite Ebene bildete die Projektgruppe Jugendcafe, die vom Leitungsteam durch Ansprechen von Jugendlichen in den bereits bestehenden Projektgruppen 3. Welt, Kriegsdienstverweigerung und dem Filmclub ins Leben gerufen wurde. Zu dieser Kerngruppe kamen mit dem Beginn der Renovierungsarbeiten eine Reihe Jugendlicher hinzu, die sich besonders aktiv bei den anfallenden Arbeiten gezeigt hatten. Später bildete sich die "Mitarbeiterkonferenz", als am Jugendcafe besonders engagierte Gruppe "im Umfeld" der evangelischen Jugend, was heißt, daß der Bezug zur evangelischen Jugendarbeit äußerst unklar war: Gegenüber Stadt und Stadtjugendring erschien die evangelische Jugend als relativ geschlossene Gruppe mit Vereinscharakter und eindeutiger Führung - in der Realität jedoch waren die aktiven Mitarbeiter zwar eng mit dem Leitungsteam der evangelischen Jugend verbunden, verstanden ihren Beitrag jedoch nicht unbedingt als Engagement der evangelischen Jugend. Dies entsprach dem damaligen Selbstverständnis des Leitungsteams, das Projekte initiieren wollte, die sich verselbständigen, und dabei in ausgesprochen institutions-negativistischer Weise den Jugendlichen die Auseinandersetzung mit kirchlichen Strukturen ersparen wollte.

Die programmatischen Äußerungen dieser - wie eben dargestellt nicht eindeutig definierten - Gruppe "evangelische Jugend" dürften sehr stark durch das Leitungsteam beeinflußt sein, jedoch durchaus auch auf die Kerngruppe um die evangelische Jugend übertragbar sein. Zieht man vorliegende Texte heran, so fällt eine seltsame Mischung aus fortschrittlichen sowie ausgesprochen sozial-integrativen und kompensatorischen Zielsetzungen auf. So wird in einem Referat eines Mitglieds des Leitungsteams bei einer Bürgerversammlung, das als Anlage 6 zum Teil 2.2 wiedergegeben ist, einerseits gefordert: "Das Jugendhaus soll einen Freiraum darstellen, in dem Jugendliche ihre wirklichen Interessen kennenlernen sollen...", andererseits scheint die Verwirklichung dieser "wirklichen Interessen" i m Haus der Jugend möglich. Was denn nun diese wirklichen Interessen sind, bleibt offen - es kann nur vermutet werden, daß damit eine Distanzierung von traditionellem Freizeitverhalten im Sinne einer "Kultivierung" durch kommunikatives Verhalten gemeint ist. Die Probleme Jugendlicher, die sich "Isolation, Streit mit dem Elternhaus, Alkohol- und Drogenmißbrauch, steigender Jugendkriminalität, wachsender Unzufriedenheit" äußern, scheinen ausschließlich vom Generationskonflikt und der mangelnden Fähigkeit zur Kommunikation hervorgerufen zu sein. Daß möglicherweise die Situation in anderen Lebensbereichen wie der Freizeit - etwa am Arbeitsplatz der Eltern oder in der Schule - etwas mit diesen Konflikten zu tun hat, kommt gar nicht in den Blick. Dem entspricht auch das postulierte Ziel der "Zusammenführung Jugendlicher aller Bildungs- und Herkunftsschichten" - die unterschiedlichen Alltagsprobleme von Schülern und Lehrlingen werden nicht gesehen, wenn auch das angestrebte Ziel der Entdeckung von Gemeinsamkeiten aller Jugendlicher durchaus wieder emanzipatorischen Charakter hat.

Eine ganz ähnliche Tendenz findet sich auch in dem von einer Arbeitsgruppe der Mitarbeiterkonferenz ausgearbeiteten Papier "Zielsetzung des Hauses der Jugend Seligenstadt", das als Anlage 11 zum Teil 2.2. wiedergegeben ist. Offenheit des Hauses, Ansätze zur Selbstverwaltung, Erfahrungs- und Problemaustausch auf der Basis verbesserter Kommunikation, Aktivierung im kreativen Bereich, Erkennen von sozialer Verantwortung, Überwinden des Generationskonfliktes - diese an sich positiven Ziele stehen sehr unvermittelt mit der Situation der Jugendlichen in der gesellschaftlichen Realität da. Zwar wird auch gefordert, Anreize zu geben, "über die vorgesehenen (es soll wohl vorgegebenen heißen) gesellschaftlichen Verhältnisse nachzudenken und sich eine Meinung zu den Ereignissen in der Gesellschaft zu bilden"; dies scheint in "Diskussionen, Vorträgen, Filmvorführungen und Seminaren" möglich. Welche Bedeutung dabei die unmittelbaren lebenspraktischen Probleme der Jugendlichen haben ist ebenso unklar wie die Frage, mit welcher Zielperspektive und Handlungskonsequenz über gesellschaftliche Verhältnisse nachgedacht werden soll.

In der Praxis verschaffte die evangelische Jugend den Jugendcafe-Besuchern einen relativ unstrukturierten Freiraum, aus dem sich zwar für kurze Zeit weiterführende Aktivitäten entwickelten, der aber von dem überwiegenden Teil der Jugendlichen in erster Linie konsumiert wurde. Vor den Konflikten mit dem Stadtjugendring, der Stadt und dem Freundeskreis schirmte die kleine Gruppe der aktiven Mitarbeiter und vor allem das Leitungsteam die Mehrheit der Jugendlichen ab, auch wenn mit den "Plenen" die Möglichkeit der Vorbereitung kollektiver Aktionen durchaus gegeben war. Die wenigen politisch-inhaltlichen Angebote (3. Welt-Gruppe, Lehrlingsgruppe) und die Wochenendseminare in Sandbach wurden nur von Minderheiten in Anspruch genommen.

Auch wenn der Zielrahmen und die Aktivitäten der evangelischen Jugend im Kontext zu jugendarbeitstheoretischen Konzepten nicht reflektiert war, so ergibt sich doch eine deutliche Tendenz zu einer bürgerlich-emanzipatorischen Jugendarbeit. Dafür spricht die Konstruierung gesellschaftlich vermittelter Konflikte ("Generationskonflikt") als Grundwidersprüche ebenso wie der Ansatz an Phänomenen ("mangelnde Kommunikation", "Alkoholgefährdung") ohne die tieferen gesellschaftlichen Ursachen zu benennen. Auch der Anspruch, "für alle" Jugendlichen ein gleiches Angebot zu machen, tendiert in diese Richtung. Hinzu kommt die Strategie, Konflikte auf der "höheren Ebene" zu lösen, ohne die Jugendlichen kollektiv an der Auseinandersetzung zu beteiligen.


3.2.4 Der Freundeskreis Haus der Jugend

Der Freundeskreis Haus der Jugend wurde auf Initiative des Stadtjugendring-Vorsitzenden gegründet. Die Anlagen 8, 9, 10a und 10b zum Teil 2.2 dokumentieren die Gründungsaufrufe. Im Freundeskreis sollten sich erwachsene Bürger der Stadt zusammenfinden, um die Jugendlichen beim Betrieb des Jugendcafes zu unterstützen. Der auslösende Grund hierzu war die aus der Konzession der Stadt Seligenstadt hervorgehende Verpflichtung zur ständigen Anwesenheit des Konzessionars - des Stadtjugendring-Vorsitzenden - oder seines Stellvertreters. Und der mußte volljährig, d.h. zum damaligen Zeitpunkt über 21 Jahre alt sein, wobei keiner der Jugendlichen schon so alt war. Es handelt sich dabei um eine formal nicht angreifbare, rechtlich für Konzessionen verbindliche Bedingung.

Es muß aber gefragt werden, wieso für das Jugendcafe eigentlich eine Konzession nach dem Gaststättengesetz (!) erforderlich war, und nicht etwa eine verständliche bautechnische Abnahme, wie sie für öffentliche Gebäude üblich ist. Das Jugendcafe war in keiner Weise eine in erster Linie gaststättenähnliche Einrichtung, sondern eher ein Jugendtreffpunkt, wo man nebenher auch noch Getränke kaufen konnte. Es gibt unzählige Jugendeinrichtungen, die durchaus offenen Charakter haben, die Getränke verkaufen, ohne daß die Verwaltung auch nur im Geringsten daran denken würde, eine Gaststättenkonzession zu verlangen. Es drängt sich der Verdacht auf, daß auf diese Weise gegenüber den Jugendlichen ein zusätzliches Kontroll- und Disziplinierungsorgan begründet werden soll, gegen dessen Einsetzung sich formal nichts sagen läßt und dessen Einsetzung mit der Ideologie von Partnerschaft und Kooperation verbrämt wird. Darauf deuten Äußerungen des Stadtjugendring-Vorsitzenden in der Presse sehr eindeutig hin: "Eine Vereinigung Erwachsener müßte sich bereitfinden, unauffällig aber wirksam (!) die Oberaufsicht (!) und Verantwortung über das Jugendcafe zu übernehmen..." (siehe Anlage 9 zu Teil 2.2) (Hervorhebungen von mir).

Die Zusammensetzung des Freundeskreises bestätigt ebenfalls die Richtigkeit der These, daß dieser eingesetzt wurde, um das Jugendcafe im Sinne eines konservativen Konzepts von Stadt und Stadtjugendring funktional zu erhalten. Wenn es auch eine Reihe wirklich für die Jugendlichen engagierter Eltern gegeben hat, so deutet doch die große Zahl von CDU-Funktionären und etablierten Vereinsvertretern darauf hin. Hier muß allerdings auch gesagt werden, daß fortschrittliche Erwachsene und die SPD das Jugendcafe im Freundeskreis weitgehend im Stich gelassen haben.

Der Freundeskreis reiht sich also ein in die unheilige Allianz von Stadt, Stadtjugendring und konservativer Öffentlichkeit. Nicht umsonst wurde ein führendes Mitglied des Freundeskreises später Vorsitzender des Stadtjugendrings. Dennoch sollte seine Funktion nicht überbewertet werden. Direkten Einfluß auf den Ablauf im Jugendcafe hatte er kaum, außerdem saßen die "Aufsichtspersonen" meist einen Stock höher im Vorstandszimmer. Stärker dürfte indes der indirekte Einfluß auf die Mitarbeiter der evangelischen Jugend gewesen sein, die immer im Spannungsfeld zwischen den Problemen und Bedürfnissen der Jugendhaus-Besucher und der disziplinierenden Freundeskreis-Vertreter standen.


3.2.5 Die Gruppe Aktion Jugendhaus

Etwa zum Zeitpunkt der offiziellen Eröffnung des Jugendcafes im Sommer 1973 kamen einige Jugendliche in das Haus, die den Kern der späteren Aktion Jugendhaus bildeten. Zunächst ohne festgefügte Organisation kritisierten sie sporadisch die Mitarbeiter der evangelischen Jugend, denen sie zu starke Bindung an die Interessen des Stadtjugendrings vorwarfen. Dies machte sich zunächst am konkreten Verhalten der Mitarbeiter fest, z.B. bei der Schließung des Jugendcafes zur mit dem Stadtjugendring vereinbarten Zeit um 23.00 Uhr, obwohl noch Jugendliche dableiben wollten.

Bei der Diskussion um das "Organisationsstatut" des Jugendcafes legten sie einen Alternativentwurf zu den Vorschlägen von Stadtjugendring und evangelischer Jugend vor, der im Gegensatz zu diesen den Jugendlichen eine eindeutige Mehrheit im obersten Entscheidungsgremium sichern sollte. Evangelischer Jugend, Stadtjugendring und Freundeskreis wird zusammen nur 1/3 der Stimmen zugestanden, weil diese Gruppen nicht die Jugendlichen im Jugendcafe repräsentieren. Nachdem dann doch der Entwurf der evangelischen Jugend angenommen wird, zieht sich die Gruppe zunächst zurück und trifft sich außerhalb des Jugendcafes weiter.

Eine Zusammenfassung der dort geführten Diskussion liefert das Papier "Zur Diskussion über Ziele und Arbeit der Gruppe", das als Anlage 27 zum Teil 2.2 wiedergegeben ist. Darin wird der evangelischen Jugend bescheinigt, daß ihr Versuch, "erst ein Jugendhaus mit der Stadt auszuhandeln und dann den Jugendlichen die Möglichkeit zu geben, ein Bewußtsein für ein Jugendhaus zu entwickeln", gescheitert ist. Jetzt bleibe der evangelischen Jugend nichts anderes mehr übrig, als die Jugendlichen zu beschwichtigen, damit ihnen das Jugendhaus nicht wieder weggenommen wird. Statt dessen wird verlangt, "daß sich die Jugendlichen organisieren und organisiert ihre Forderungen durchzusetzen versuchen." Dazu bedarf es nach Ansicht der Gruppe einer Avantgarde, die "klare Alternativen" den Jugendlichen vorschlägt, die dann "ausdiskutiert" werden und Resonanz bei den Jugendlichen finden werden. Anschließend müssen noch Durchsetzungsmethoden organisiert werden, ("Demonstrationen oder Hausbesetzungen"). Aus den Stellungnahmen der Stadt gilt es, die Widersprüche aufzuzeigen, und für die weitere Durchsetzung müssen "steigernde Mittel" organisiert werden.

Daß sie mit der Avantgarde sich selbst meinten, zeigt ihre weitere Praxis: Während des "Streiks" der evangelischen Jugend übernimmt die Gruppe die Führung im Jugendcafe und geht von der früheren Vermittlungsstrategie der Mitarbeiterkonferenz zur Konfrontation über - offensichtlich in der Hoffnung, daß sich die Jugendlichen im Kampf gegen den Magistrat solidarisieren und ihre Forderungen durchsetzen, deren wichtigste die nach finanzieller Förderung durch die Stadt ist. 1000 DM werden verlangt in einer Dokumentation, die die Öffentlichkeit für die Belange des Jugendhauses mobilisieren soll.

Wie illusionär allerdings diese Hoffnung ist, zeigt sich spätestens im Februar 1974, als der Stadtjugendring ohne nennenswerte Widerstände der Jugendlichen oder der Bevölkerung das Jugendcafe schließt. Es folgt eine Dienstaufsichtsbeschwerde gegen den Bürgermeister wegen der Behinderung eines Info-Standes der Aktion Jugendhaus und ein Info-Abend, dessen Beteiligung wiederum zeigt, wie wenig die Aktion Jugendhaus die Öffentlichkeit ansprechen konnte. Auch die Aktionswoche im Mai, die zur letzten Aktivität der Gruppe wird, bleibt isoliert im Ghetto der Jugendlichen, die im Jugendcafe ihre Freizeit verbrachten - eine Aktivierung größerer Massen gegen die Politik der Stadt konnte nicht verzeichnet werden.

Dem gegenüber steht der Selbstanspruch der Gruppe, wie er sich in dem "Papier zum Thema Jugendzentren" wiederspiegelt, das als Anlage 36 zum Teil 2.2 wiedergegeben ist. Zwischen einer prinzipiell richtigen Analyse des Verhältnisses von Arbeit und Freizeit und einem ebenso prinzipiell richtigen Abschnitt zum Jugendbegriff steht der Teil "Rolle von Staat und Magistrat", in dem auf der einen Seite pauschalisierend "der Staat" und "der Magistrat" als Helfershelfer "der Bourgeoisie" bezeichnet wird, auf der anderen Seite "der Jugendzentrumsbewegung" und dem Projekt in Seligenstadt geradezu systemsprengende Funktion zugeordnet wird. Ob der Staat den Jugendlichen die Räume verweigert, oder ob er sie ihnen gibt - beides ist nach diesem Papier eine Taktik, die gegen die Jugendlichen gerichtet ist. Einmal will er den Jugendlichen keine Möglichkeiten geben, sich außerhalb seines Einflusses zu bewegen, das andere Mal will er sie beruhigen. Folgerichtig muß sich die Jugendzentrumsbewegung gegen den Staat richten, der "mit brutalem Polizeieinsatz" bereits "40% aller Jugendzentren" geräumt hat.

Ich will hier gar nicht den Magistrat in Schutz nehmen. Wer jedoch in einer derartigen Simplifizierung gesellschaftliche Zusammenhänge sieht und in Verkennung der realen Machtverhältnisse nach dem Motto "der Magistrat muß weg" operiert, aber auf der anderen Seite erwartet, von ebendiesem Magistrat finanziell unterstützt zu werden, während gleichzeitig die Bevölkerung einem Jugendzentrum eher ablehnend gegenübersteht, der offenbart m.E. gelinde gesagt Ansätze von Realitätsverlust. Wie die Praxis zeigt, führt diese Strategie auch binnen kürzester Zeit zur Schließung des Hauses.

Man wird der Gruppe Aktion Jugendhaus eine zumindest theoretisch postulierte antikapitalistische Funktion nicht absprechen können - der antikapitalistische Anspruch wird sich jedoch messen lassen müssen an dem, was bei den betroffenen Jugendlichen an politischem Lernen herauskommt. Und hier, so scheint mir, wurde der Mehrheit der Jugendlichen durch die Politik der Aktivengruppe eine eher resignative Erfahrung der Machtlosigkeit gegenüber "denen da oben" vermittelt. Für die Aktion Jugendhaus erwies es sich im Sinne einer selbsterfüllenden Prophezeiung, daß die Stadt als Interessensvertreter der Bourgeoisie handelt, während die Jugendlichen nun kein Jugendhaus mehr haben und die Erfahrung gemacht haben, daß es sich nicht lohnt, sich für seine Interessen einzusetzen, weil einem die Stadt ja doch wieder alles kaputt macht.


3.2.6 Die "oppositionellen" Jugendorganisationen

Nach der Schließung des Jugendcafes durch die Stadt dauerte es über ein Jahr, bis es wieder zu einer Initiative kam, die größere Teile der Seligenstädter Jugend ansprechen wollte. Die ehemalige Mitarbeitergruppe um die evangelische Jugend hatte sich nach einer Phase des Rückzugs gemeinsam mit neuen interessierten Jugendlichen in verschiedenen Gruppen organisiert, die z.T. aus früheren Projektgruppen der evangelischen Jugend hervorgegangen waren und teilweise ihre eigenen Vertreter im Stadtjugendring hatten: Arbeitskreis Dritte Welt, Deutsche Fristensgesellschaft / Vereinigte Kriegsdienstgegner, Jungsozialisten, Amnesty International, Filmclub, Frauengruppe. Ein Kristallisationspunkt dieser "oppositionellen Fraktion" wurde das Seligenstädter Jugend-Blatt, das - wenn schon kein offener Treffpunkt für Jugendliche mehr vorhanden war - einen Gegenpol zur örtlichen Presse darstellen sollte, die Meinungen der Jugendorganisationen, die der Stadtjugendring- und Junge-Unions-Linie zuwiderliefen, konsequent unterdrückte.

Es war das ständige Problem dieser Gruppe, daß sie ohne Räume arbeiteten und es sehr schwer hatten, neue Jugendliche anzusprechen. Die Hemmschwelle, in eine relativ geschlossene Gruppe zu gehen, ist ungleich höher, als eine Gruppe im Umfeld eines offenen Treffpunkts kennenzulernen. So verband sie das gemeinsame Interesse, die Räume im Haus der Jugend - die inzwischen in einer entstellenden Weise renoviert worden waren - wieder einer offenen Nutzung zugänglich zu machen. Ein erster Schritt dazu ist die Podiumsdiskussion "Jugendarbeit in der Gemeinde", im Oktober 1975 (siehe Anlage 46 zu Teil 2.2).

Als das Haus der Jugend wieder in der Hand des Stadtjugendrings ist und dieser seine einschränkende Nutzungsordnung erläßt, versuchen die Gruppen auf umständlichem Wege über die Stadtjugendringmitglieder unter ihnen die Räume zu beantragen und ein kontinuierliches Programm zu verwirklichen. Doch es wird schnell deutlich, daß dazu die Einschränkungen zu groß sind. Die Räume dürfen nicht verändert werden, müssen lange vorher beantragt werden usw. So starten die Gruppen den Versuch, die Benutzungsordnung abzuschaffen und verfassen eine Resolution, in der sie die ständige Überlassung der Räume, abgesichert durch einen Nutzungsvertrag, fordern. Der Versuch endet in einer geringfügigen Modifizierung der Benutzungs- und Vergabeordnung. Heute muß der Versuch, die Räume im Haus der Jugend wieder einer offenen Nutzung zugänglich zu machen, als gescheitert angesehen werden.

Das Engagement dieser Gruppen war weniger mit konkreten pädagogisch-politischen Zielvorstellungen verbunden, als vielmehr mit dem Anliegen, die mindesten Voraussetzungen zu schaffen, die eine Diskussion über solche Zielvorstellungen überhaupt erst sinnvoll gemacht hätten. Die Gruppen versuchten durch ihr gemeinsames Auftreten, verbunden mit Öffentlichkeitsarbeit, "den Gang durch die Institutionen" im Stadtjugendring. Leider erfolglos, denn diesen mühsamen Weg waren nur wenige, schon immer engagierte Jugendliche zu gehen bereit.


3.3 Zusammenfassende Kritik

3.3.1 Das Jugendcafe Seligenstadt im Kontext der Jugendzentrumsbewegung in der BRD

Leider kann im Rahmen dieser Arbeit auf die Hintergründe und Entwicklungen der "Jugendzentrumsbewegung" in der BRD nur am Rande eingegangen werden, dennoch soll das Projekt in Seligenstadt auch in diesem Kontext betrachtet werden.

Anfang der siebziger Jahre entstanden in der BRD unabhängig voneinander eine große Zahl von Initiativgruppen, die Räume zur Gestaltung ihrer Freizeit von den Kommunen forderten. Anlaß dazu war zum einen die Kommerzialisierung der Freizeit in Diskotheken und Gaststätten, zum anderen die ständige fürsorgliche Lenkung in den traditionellen Vereinen, was sich in dem Kampfruf "Was wir wollen, ist Freizeit ohne Ausbeutung und Kontrollen" niederschlug. Das auslösende Moment, ein Jugendzentrum zu fordern, war also weniger eine umfassende politische Perspektive, als vielmehr der Ansatz an einem "Detailinteresse" [vgl. Peter E. Kalb in: Hessische Jugend (1973) Nr. 3 S. 6], der unbefriedigenden Situation im Freizeitbereich.

Die Jugendzentrumsbewegung profitierte dabei vom Zerfall der Schüler- und Lehrlingsbewegung insofern, als viele früher dort aktive Jugendliche sich einer Jugendzentrumsinitiative anschlossen, weil die Durchsetzungsmöglichkeiten ihrer Interessen in diesem Bereich aussichtsreicher erschienen. Außerdem sind die zu befürchtenden Repressionen bei einer im Freizeitbereich angesiedelten Initiative ungleich geringer, als beim Eintreten für die eigenen Interessen in Schule und Betrieb [vgl. Diethelm Damm, Politische Jugendarbeit, München 1975 S. 174 f.]. Wenn auch viele Jugendhäuser die Funktion erfüllt haben, von den Konflikten in anderen Lebensbereichen abzulenken, und die Forderung nach zunehmender Demokratisierung auf den Freizeitbereich reduzierten, so wurde in der Jugendzentrumsbewegung doch sehr schnell das Verhältnis von "freier" und "unfreier" Zeit problematisiert. So entstand die Strategie, durch die Beschäftigung mit Alltagsproblemen im Jugendzentrum, z.B. auch unter Zuhilfenahme von Medien, eine Rückwirkung auch auf andere Lebensbereiche zu erzielen mit dem Anspruch, den Jugendlichen zur Erkenntnis und Wahrnehmung ihrer Interessen über den Freizeitbereich hinaus zu verhelfen. "Freizeit" wurde so zur "Befreiungszeit".

In Seligenstadt ist diese Problematisierung verhältnismäßig spät erfolgt und zwar im Wesentlichen auf den Mitarbeiterseminaren im November 1973 und Januar 1974, als das Projekt schon fast gescheitert war. Sie hatte keine Auswirkungen mehr auf den täglichen Betrieb im Jugendcafe gehabt. Dieser war fast ausschließlich freizeitorientiert - was nicht heißt, daß von den Jugendlichen keine schulischen, familiären oder betrieblichen Konflikte eingebracht und miteinander diskutiert wurden. Dies geschah jedoch - mit Ausnahme der Initiative Lehrlingsgruppe - nicht organisiert und zielgerichtet, sondern eher spontan im informellen Bereich.

Mit der Kritik an den Möglichkeiten zur Freizeitgestaltung verbunden ist im allgemeinen die Forderung nach Selbstverwaltung. In Abgrenzung zur fremdbestimmten Situation in Schule und am Arbeitsplatz wird Selbstbestimmung im Jugendhaus verlangt. Es hat in den Anfängen der Jugendzentrumsbewegung einen ganzen Stapel an "Modellstrukturen" ."Organisationsstatuten", "Selbstverwaltungsordnungen" usw. gegeben, auf denen in kleinen Kästchen die verschiedenen (und es waren oft nicht wenige) Gremien, Jugendräte, Trägervereine usw. eingetragen wurden und festgelegt war, wer welche Entscheidungen zu treffen hat. Dies sollte nicht darüber hinwegtäuschen, daß ein wirklich autonomes Jugendzentrum Utopie ist. Wenn es auch eine ganze Bandbreite von Organisationsformen gibt, die den Jugendlichen mehr oder weniger Rechte zusichern, so hat selbst bei juristisch verbindlichen Nutzungsverträgen die Kommune über das Instrument der Finanzierung den längeren Hebel in der Hand. Wir sehen es gerade in jüngster Zeit, wie durch den Wechsel der Regierungspartei im Gemeindeparlament Jugendhäuser, die schon lange erfolgreich bestanden haben, nun kurz vor der Schließung stehen.

In Seligenstadt gab es keine verbindlichen Abmachungen, wer welche Entscheidungen zu treffen hat. Alle Vereinbarungen wurden mündlich zwischen Stadt, Stadtjugendring und evangelischer Jugend getroffen. Sie leidenschaftlich geführten Diskussionen um das Organisationsstatut waren letztlich Scheingefechte, irrelevant, da sie von einem falschen Verständnis der prinzipiellen Harmonie der verschiedenen Interessensgruppen ausgingen. Wesentlicher erscheint mir jedoch, daß mit den "Plenen" versucht wurde, die Jugendhaus-Besucher an der Meinungsbildung zu bestimmten Konflikten zu beteiligen und damit den ersten Schritt zur Selbstorganisation zu tun - wenn auch die Möglichkeiten der Beteiligung der Basis nicht ausgeschöpft wurden.

Es können also durchaus Parallelen zwischen dem Jugendcafe Seligenstadt und selbstverwalteten Jugendhäusern festgestellt werden - der Ansatz im Freizeitbereich und die zumindest postulierte Selbstverwaltung sind die Wesentlichen - wenn auch die Entstehungsgeschichte des Jugendcafes eher untypisch für die Jugendzentrumsbewegung ist: Die Idee eines offenen Jugendtreffs kam ja nicht von unzufriedenen Jugendlichen, sondern von dem Stadtjugendring als Vertreter der traditionellen Jugendarbeit. Sie wurde von einem Jugendverband aufgegriffen: der evangelischen Jugend. Und erst dann entwickelte sich eine Initiative von unorganisierten Jugendlichen.


3.3.2 Zur Strategie einer an den Interessen der Jugendlichen orientierten Jugendarbeit im konservativen Umfeld

Rückblickend kann festgestellt werden, daß sich in dem Konflikt um das Seligenstädter Jugendcafe zwei Fronten mit unversöhnlichen Interessengegensätzen gegenüberstanden: Die Stadt mit ihrem CDU-Magistrat und ihren Gehilfen im Stadtjugendring und Freundeskreis, die das Jugendcafe im Sinne ihres sozial-integrativen Konzepts funktionalisieren wollten, und die aktiven Jugendlichen, die vage Vorstellungen einer gesellschaftskritischen Perspektive entwickelten. Es gab nun bei den Jugendlichen zwei verschiedene Strategien dieses Ziel zu erreichen:

Die Gruppe um die evangelische Jugend versuchte eine Gratwanderung zwischen den verschiedenen Interessen zu gehen: Durch Kooperation mit dem Stadtjugendring und dem Freundeskreis sollten die Voraussetzungen für den Jugendcafe-Betrieb aufrechterhalten werden, während gleichzeitig die Jugendlichen in dieser Zeit ein enges Verhältnis zu "ihrem" Haus und Solidarität untereinander gewinnen sollten, um dann offensivere Forderungen stellen zu können. Diese Strategie ist insofern gescheitert, als die evangelische Jugend sich von den Einschüchterungen des Stadtjugendrings so beeinflussen ließ, daß sie selbst streckenweise den Kontakt zu den Jugendlichen verlor und Disziplinierungsfunktionen wahrnahm. Außerdem liefen viele Diskussionen und Entscheidungen so hinter dem Rücken der Jugendlichen in Stadtjugendring-, Freundeskreis- oder Mitarbeiterkonferenz-Sitzungen. Die Jugendlichen teilten sich so in zwei Gruppen: Die "Aktiven", die die Verhandlungen mit den "höheren" Gremien führten und die "nur-Besucher", die mehr und mehr in eine Konsumhaltung gedrängt wurden.

Die Gruppe Aktion Jugendhaus, die die Führung übernahm, als sich die evangelische Jugend zurückzog, versuchte hingegen eine Strategie der Konfrontation mit dem Stadtjugendring und der Stadt, um so eine Solidarisierung der Jugendlichen untereinander hervorzurufen. Es ist jedoch eine Illusion, zu glauben, daß eine Solidarisierung sich mechanistisch aus der Konfrontation mit dem Klassenfeind oder einem sonstigen Gegner ergibt. So mußte auch diese Strategie in der Unterschätzung der Stärke der Stadt und der Überschätzung der eigenen Möglichkeiten zur Mobilisierung der Bevölkerung scheitern. Es ist allerdings noch eine Frage, ob es tatsächlich ein Ziel der Gruppe war, das Jugendcafe längerfristig zu erhalten, oder ob es nicht vielmehr darum ging, "die Rolle von Staat und Magistrat" zu "entlarven" und die Jugendlichen für die politische Splittergruppe zu gewinnen, der ein Teil der Gruppe angehörte.

Es stellt sich die Frage, wie die Strategie einer an den Interessen der Jugendlichen orientierten Jugendarbeit in einem solch konservativen Umfeld, wie es in Seligenstadt vorzufinden ist, überhaupt aussehen kann. Leider kann auch ich keine Patentrezepte angeben. Mir scheinen jedoch zwei Aspekte einer solchen Strategie, die ständig aufeinander bezogen werden müssen, wichtig zu sein:

Die Mobilisierung der Betroffenen im weitesten Sinne

Darunter verstehe ich den Versuch, breite Teile der Bevölkerung aller Altersgruppen für ein Projekt zu gewinnen. Dazu muß deutlich werden, daß das Vorhaben ihnen konkreten Nutzen bringt und das Eintreten dafür in vielerlei Formen möglich ist.

Die institutionelle Absicherung

Darunter verstehe ich die Anbindung eines Projekts an eine Trägerorganisation mit überregionaler Bedeutung (Kirche, Jugendverband, Gewerkschaft etc.) sowie den Versuch, Organisationen als Bündnispartner zu gewinnen. Ohne eine solche Absicherung wird jedes Projekt über kurz oder lang in der Isolation und ohne wirksame Interessenvertretung enden.

Ansatzweise wurde eine solche Strategie im Kampf um die Regelbelegung durch das gemeinsame Auftreten verschiedener Organisationen angewendet, wenn auch der Erfolg gering war. Eine realistische Einschätzung der Situation wird nicht verkennen können, daß Stadt und Stadtjugendring die Jugendpolitik in Seligenstadt nach wie vor nach ihrem Interesse bestimmen und daß Veränderungen nur langfristig zu erwarten sind.


3.3.3 Fazit - was kommt unter dem Strich an politischen Lernmöglichkeiten im Projekt Jugendcafe heraus ?

Die Frage, was denn nun eigentlich an politischem Lernen durch das Projekt Jugendcafe ermöglichet wurde, läßt sich kaum abschließend beantworten. Grundlage für eine wissenschaftliche Antwort könnte eine Befragung der damals beteiligten Jugendlichen liefern, dies ist jedoch hier nicht zu leisten. So kann ich nur von meinen subjektiven Erfahrungen ausgehend mögliche Tendenzen angeben - und dies nur für die Gruppe der Jugendlichen, mit denen ich über das Projekt hinaus weiterhin Kontakt hatte - im Wesentlichen die früheren Aktiven um die evangelische Jugend. Bezogen auf diese Gruppe läßt sich allerdings sagen, daß ein großer Teil sich heute in irgendeiner Weise politisch engagiert - sei es als Schülervertreter, Gewerkschaftsmitglied oder Mitglied in einer anderen Initiativgruppe. Die Gruppe ist heute ziemlich verstreut, aber die meisten "machen noch was", arbeiten an einem Projekt mit, und haben zum Teil auch ihre Ausbildung auf einen Schwerpunkt im sozialen Bereich gelegt. Die politischen Zielvorstellungen sind differenzierter geworden, der allgemeine, nicht näher reflektierte Unmut über "die Verhältnisse" ist einer realistischen Einschätzung der BRD - Gesellschaft und der Möglichkeiten politischer Praxis gewichen.

Mir scheint, bei aller Begrenztheit der politischen Lernmöglichkeiten, die das Projekt Jugendcafe geboten hat, waren doch zwei fundamentale Erfahrungen für die Jugendlichen möglich:

Die Erfahrung, Probleme nicht als einzelner zu haben und lösen zu müssen und die Möglichkeit gemeinsamen, solidarischen Handelns;

Die Erfahrung, daß diese Gesellschaft nicht von einer prinzipiellen Harmonie geprägt ist, sondern daß es Interessengegensätze gibt, die zu Konflikten führen.

Diese Erfahrungen boten - zumindest für einige Jugendliche - möglicherweise den Ansatzpunkt, sich weiterhin kritisch mit ihrer Lebenswirklichkeit auseinanderzusetzen.

Hierbei spielte sicherlich auch die stabilisierende Funktion "der Gruppe" eine Rolle, jener Jugendlicher, die sich während des Projektes und darüber hinaus bis heute in vielerlei Hinsicht gegenseitig unterstützen. Auch die Erfahrung der "Sandbach-Seminare", auf denen die Praxis im Jugendhaus reflektiert wurde und wo sich Kristallisationspunkte im Gruppenprozeß bildeten, erscheinen mir in diesem Zusammenhang wesentlich, wenn auch in dieser Arbeit auf diesen Punkt nicht weiter eingegangen werden kann.

Welche Auswirkungen das Projekt auf die Masse der Jugendlichen gehabt hat, von denen ich z.T. nie wieder etwas gehört oder gesehen habe, bleibt dahingestellt.


4. Kirchensoziologische Aspekte einer Analyse des Konflikts Leitungsteam der evangelischen Jugend / Kirchenvorstand in Seligenstadt

Leitende Fragestellung dieses Kapitels ist es, wie es zu dem Konflikt zwischen dem Leitungsteam der evangelischen Jugend und dem Kirchenvorstand in Seligenstadt kommen konnte, der - wie im Teil 2.3 dargestellt - schließlich in einem Verbot weiterer Aktivitäten des Leitungsteams in der evangelischen Jugendarbeit durch den Kirchenvorstand eskalierte.

In einem ersten Erklärungsversuch sollen verschiedene Typen theologischer Begründung und konkreter Ausformung evangelischer Jugendarbeit dargestellt und der aktuelle Stand der Polarisierung in der evangelischen Jugend aufgezeigt werden. Dieses Material soll für eine Interpretation des Konflikts aufgrund unterschiedlicher pädagogisch-theologischer Orientierungen herangezogen werden.

Der zweite Versuch geht von einer Analyse der soziologischen Bedingungen der Kirchengemeinde und des Kirchenvorstandes aus. Dieses Material soll für eine Interpretation des Konflikts auf der Grundlage der materiellen Basis der Mitglieder des Kirchenvorstandes und des sich daraus ergebenden Normen- und Wertsystems herangezogen werden.


4.1 Evangelische Jugendarbeit als Spannungsfeld unterschiedlicher pädagogisch-theologischer Orientierungen

4.1.1 Typen theologischer Begründung und konkreter Ausformung evangelischer Jugendarbeit und ihr historischer Hintergrund

D i e evangelische Jugendarbeit gibt es nicht. Sie existiert vielmehr als weites Feld verschiedener theologischer Begründungen und konkreter Ausformungen. Man kann daher auch von keiner einheitlichen Theorie evangelischer Jugendarbeit sprechen, ja, es ist sogar sehr schwierig, verschiedene Theoriehintergründe in den unterschiedlichen Ausformungen exakt einzugrenzen und darzustellen. Zu sehr sind dazu Mischformen entstanden, Arbeitsbereiche, die Elemente der einen oder anderen Tradition gleichzeitig entnehmen. Zudem ist m. E. bei vielen Praktikern, ehrenamtlichen wie hauptamtlichen, der eigene pädagogisch-theologische Theoriehintergrund nicht hinreichend reflektiert. Er dient oft nur einer durch den institutionellen Legitimationszwang hervorgerufenen theologischen Überhöhung vorliegender politischer und pädagogischer Zielvorstellungen sowie in der eigenen Sozialisation begründeter normativer Orientierungen.

Meine Einschätzung entspricht da der These Mollenhauers, zu der er in einer Untersuchung evangelischer Jugendarbeit in der BRD 1969 kam: "Die theologischen Begründungen evangelischer Jugendarbeit sind Ausdruck bzw. nachträgliche Rechtfertigung pädagogischer Handlungsmuster, bzw. des Sozialisationsmodus im Ganzen. Handlungsmuster bzw. Sozialisationsmuster entstammen vorgängigen, a-theologischen sozialen Einstellungen, Motiven, Erfahrungen... Die theologische Theorie jedoch erfüllt die Funktion eines Verstärkers im Hinblick auf den gewählten Sozialisationsmodus." [Mollenhauer u.a.: Evangelische Jugendarbeit in Deutschland, München 1969, S. 258]

Dennoch sind von ihren historischen Wurzeln her verschiedene Typen evangelischer Jugendarbeit zu unterscheiden, die im Anschluß dargestellt werden sollen. Dabei fand der "bündische" Typ der evangelischen Jugendarbeit, der im Verband Christlicher Pfadfinder und Pfadfinderinnen organisiert ist, keine Berücksichtigung, da er für die Analyse der Situation in Seligenstadt ohne Bedeutung ist.


4.1.1.1 Missionarische evangelische Jugendarbeit

Der Typ der missionarischen Jugendarbeit stellt die älteste Form evangelischer Jugendarbeit dar. Die Wurzeln reichen zurück ins vorige Jahrhundert.

In der EKHN wird dieser Typ vor allem repräsentiert durch die beiden Jugendverbände "Christlicher Verein Junger Männer" (CVJM) und den "Jugendbund für entschiedenes Christentum" (EC). In Frankfurt und einigen anderen Städten des Kirchengebiets kommt das "Evangelische Jugendwerk" hinzu, das dem CVJM nahesteht. Vereinzelt tritt dieser Typ auch unabhängig von diesen organisierten Verbänden in Gemeinden auf, mancherorts liiert mit Frömmigkeitsbewegungen wie z.B. der Billy Graham Evangelistic Association.

Das vorrangig postulierte Ziel ist es, junge Menschen zu Christus zu führen. Die Pariser Basis des CVJM von 1855 lautet: "Die Vereine haben den Zweck... solche jungen Männer untereinander zu verbinden, welche Jesus Christus nach der Heiligen Schrift als ihren Gott und Heiland erkennen, im Glauben und Leben seine Jünger sein und danach trachten wollen, das Reich ihres Meisters unter den jungen Männern auszubreiten." Das EC-Versprechen: "Jesus ist der Heiland der Welt. Seinen Ruf zur Umkehr und zum Glauben will ich folgen und es lernen, zur Ehre Jesus zu leben. Ich will jeden Tag Gottes Wort lesen und beten und treu an den Veranstaltungen des Jugendbundes teilnehmen." [zit. n. Otto Seydel, Kirchliche Jugendarbeit, Stuttgart 1974, S. 91]

Bibelarbeit ist das bestimmende Moment und das "Eigentliche" der Arbeit dieses Typs evangelischer Jugendarbeit. Alles andere, etwa die Aufnahme der Bedürfnisse und Interessen der Jugendlichen, gehört in den Bereich des "Uneigentlichen". Dem entspricht die Differenzierung in "Zentrum" und "Peripherie" der Arbeit. Die Peripherie - also etwa Spiele, musische Arbeit, Freizeiten etc. - wird angeboten, um Jugendliche zum Zentrum führen zu können. Diesen Sachverhalt charakterisiert Otto Seydel: "Man kann feststellen, daß bei der missionarischen Jugendarbeit alle Elemente einer an den Bedürfnissen der Jugendlichen orientierten Jugendarbeit grundsätzlich abgelehnt werden - oder aber ein bedürfnisorientierter Freiraum gleichsam eine Vorhoffunktion bekommt und als indirektes Werbemittel gerechtfertigt wird." [Seydel a.a.O., S. 92]


4.1.1.2 Gemeindebezogene evangelische Jugendarbeit

Die Organisationsform der evangelischen Jugend in selbständigen Jugendverbänden blieb bis zur faschistischen Machtergreifung 1933 bestimmend. Unter dem Druck des Hitlerregimes, das später alle Jugendorganisationen in der Hitlerjugend gleichschaltete, entwickelte sich die gemeindebezogene evangelische Jugendarbeit. Ihr war, da sie ohne feste Organisationsstruktur nur in der jeweiligen Parochialgemeinde verankert war, noch ein gewisser Freiraum eigener Aktivitäten gegeben.

Im Gegensatz zum missionarischen Konzept, dem es primär um die persönliche Glaubensentscheidung geht, steht bei der gemeindebezogenen Jugendarbeit die Einübung in kirchliche Traditionen im Vordergrund. So bildet ein bevorzugtes Arbeitsfeld die Gestaltung von "Jugendgottesdiensten", "Gottesdiensten in neuer Gestalt" u.a. Meistens handelt es sich um geschlossene Gruppen von überwiegend Schülern, die stark auf den Ortspfarrer fixiert sind und sich aus den auslaufenden Konfirmandenjahrgängen rekrutieren. Die Gewinnung "aktiver" Gemeindemitglieder ist erklärtes, jedoch selten erreichtes Ziel der Arbeit. Seydel bezeichnet diesen Ansatz in Abwandlung des Begriffs sozial-integrativ als "explizit institutionell-integrativ". [Seydel a.a.O. S. 96]

Die Bedürfnisse und Interessen breiter Teile der Jugend werden nicht angesprochen, und so reproduziert die gemeindebezogene Jugendarbeit in Entsprechung zur "Kerngemeinde" eine subkulturelle Gruppe Jugendlicher, die bereit ist, sich an die tradierten rituellen Formen anzupassen, sofern dieser Typ erfolgreich praktiziert wurde.

An dieser Stelle soll auf eine Definition für die Begriffe "Kerngemeinde" und "Subkultur" hingewiesen werden, die D. Stoodt und E. Weber verwenden: "Mit dem Stichwort 'Subkultur' ist nicht ein Schimpfwort aufgegriffen. Es erinnert vielmehr daran, daß unsere Gesellschaft aus vielen Untergruppen besteht, die jeweils eigene sprachliche und Verhaltensmuster pflegen. Die kirchliche Subkultur ist von der Kirchensoziologie wenigstens ansatzweise erfaßt und beschrieben worden (vgl. J. M. Lohse, Kirche ohne Kontakte ?, 1967). Sie differiert nach Schichten, Regionen erheblich, ist aber allgemein gekennzeichnet durch die Verweigerung gegenüber theologischer Forschung, wie etwa der historischen Kritik, der Religionskritik, durch einen verzerrten und funktionalisierten Bibelbegriff, durch den das apriorisch gesetzte Lebensverständnis der Subkultur auf die Bibel als eine Art Identifikationsfolie projiziert und dieses dann als biblisch und damit legitimiert aufgenommen wird. Ferner ist kennzeichnend die Bindung an überholte, für kirchlich ausgegebene Symbole, die Lebenssituationen traditionell konstruieren, anstatt sie aufzuklären und zu reflektieren." [D. Stoodt/E. Weber: Weg zur Konfirmation; in: Evangelische Kommentare (1977) Nr. 6]


4.1.1.3 Bedürfnisorientierte evangelische Jugendarbeit

Aufgrund der Tatsache, daß es vor allem die gemeindebezogene Jugendarbeit in den sechziger Jahren immer schwerer hatte, Jugendliche an sich zu binden, entwickelte sich eine Diskussion um eine stärkere Berücksichtigung der Bedürfnisse der Jugendlichen. Hand in Hand geht damit eine Entwicklung von den ausschließlich geschlossenen Arbeitsformen zur Intensivierung offener Angebote im Bereich der Kirche.

Theologisch begründet wird dieser Typ mit dem Hinweis, "daß die ausschließliche Orientierung der Arbeit an den Bedürfnissen und Interessen der Jugend ... als eine radikale Form der Zuwendung zum Menschen selbst schon theologische Qualität hat." [Seydel a.a.O. S. 100]

Dies erscheint jedoch mir als nachträgliche Rechtfertigung der Tatsache, daß sich die Jugendarbeit, ohne die Bedürfnisse der Jugendlichen wenigstens teilweise zu berücksichtigen, nicht in ausreichendem Maße rekrutieren konnte.

Dies dürfte der - theoretisch zwar nicht weiter ausgebaute - in der Praxis jedoch in Kirchengemeinden am häufigsten anzutreffende Typ evangelischer Jugendarbeit sein. Er wird repräsentiert von Jugendgruppen, Clubs und anderen offenen Arbeitsformen, die Möglichkeiten zur unverbindlichen Freizeitgestaltung, Hobbypflege, Freundschaftsschließung usw. bieten, ohne die gesellschaftliche Lage der betroffenen Jugendliche und ihre Konflikte im Elternhaus, Wohnbereich, Schule und Betrieb zu thematisieren. Dieser Typ gewinnt damit eine ausgesprochen kompensatorische Funktion, die Entlastung für die Probleme der Jugendlichen bietet, ohne die Probleme systematisch anzugehen.

Häufig wird dieser Typ evangelischer Jugendarbeit auch als "diakonischer" oder "sozialdiakonischer" Ansatz von Jugendarbeit bezeichnet, obwohl darunter ursprünglich in erster Linie Angebote für gefährdete Jugendliche in der Nachkriegszeit verstanden wurden.


4.1.1.4 Emanzipatorische evangelische Jugendarbeit

Die Diskussion um eine allgemeine Theorie der Jugendarbeit, wie sie insbesondere in den Arbeiten Müller/Kentler/Mollenhauer/Gieseckes 1964 und Gieseckes 1971 zum Ausdruck kommt, ist auch an der evangelischen Jugendarbeit nicht spurlos vorübergegangen. Die Studenten-, Schüler- und Lehrlingsbewegung Ende der sechziger / Anfang der siebziger Jahre wirkte als Verstärker einer Entwicklung, die auch in der evangelischen Jugend zur Problematisierung gesellschaftlicher Mißstände führte. Der USA-Imperialismus in Vietnam, wie die Problematik der Dritten Welt überhaupt, wurden bevorzugtes Thema, ebenso wie die Probleme gesellschaftlich benachteiligter Gruppen wie Gastarbeiter und Behinderter. Ein weiterer wesentlicher Punkt ist die Revision der Sexualpädagogik. In diesem Zusammenhang sei der noch heute gültige Ausschluß des CVJM-Hamburg aus dem CVJM-Gesamtverband aufgrund seines "Leitfadens zur Sexualpädagogik" erwähnt.

Die Erkenntnis der Bedeutung schichtenspezifischer Reaktionsweisen Jugendlicher führt bei diesem Typ evangelischer Jugendarbeit erstmals zu einer bewußten Differenzierung der Angebote im Hinblick auf die jeweilige Zielgruppe. Verbunden damit ist der - zumindest postulierte - Ansatz an den gesellschaftlichen Interessen der Jugendlichen in ihren verschiedenen Lebensbereichen. Die gegebene Gesellschaftsordnung wird nicht mehr als hinzunehmende verstanden, sondern deren Veränderung zu mehr Gerechtigkeit und Frieden wird zum erklärten Ziel der Jugendarbeit.

Begründet wird dieser Ansatz mit dem Bezug auf die "Agape", dem neutestamentlichen Liebesbegriff. Dabei wird die "Intention Jesu", die ständig neu zu interpretieren sei und auf die gegenwärtigen gesellschaftlichen Verhältnisse übertragen werden muß, zum Maßstab der Arbeit erklärt.

An der Basis der evangelischen Jugend hat sich dieses Konzept m.E. weit weniger durchgesetzt, als dies von konservativen Kreisen der kirchlichen Subkultur befürchtet wird. Am häufigsten dürfte es in der zielgruppenspezifischen Arbeit der Landesjugendpfarrämter und anderer übergemeindlicher Arbeitsstellen verankert sein. Arbeitsformen sind in erster Linie Tagungen und Freizeiten und in weit geringerem Maße projektorientiertes Arbeiten vor Ort.


4.1.2 Die Polarisierung in der evangelischen Jugend

Die Entwicklung neuer Ansätze evangelischer Jugendarbeit Mitte bis Ende der sechziger Jahre führte zu einer vom damaligen Generalsekretär der Arbeitsgemeinschaft der evangelischen Jugend in der BRD und West-Berlin (AEJ) konstatierten "schleichenden Polarisierung". Gemeint war damit die Auseinanderentwicklung der in der AEJ vertretenen Verbände evangelischer Jugend, der Freikirchen und der landeskirchlichen Jugendarbeit in zwei Richtungen: Die seit ehedem missionarisch-biblizistisch orientierten Gruppen und die im Zuge neuerer Ansätze stärker bedürfnisorientiert-emanzipatorische Richtung.

Die ersteren fürchteten um die Preisgabe des "Eigentlichen"; so beklagte Kurt Kirschnereit im CVJM-Rundbrief zu Weihnachten 1969, daß die evangelische Kirche ihrer Jugend gegenüber "allmählich ihren kirchlichen Auftrag preisgibt und wohlformulierte, gut durchdachte, aber eben nicht mehr kirchliche Aufträge annimmt." Er fürchtet, daß die Formulierung, was evangelische Jugendarbeit sei, sich immer mehr "jenem blassen Auftrag, jungen Menschen zu helfen, daß sie verantwortlich in der Gesellschaft leben" nähere. Kirschnereit bemerkt, daß man mit solchen Postulaten genausogut "gewerkschaftliche" oder gar "maoistische" (!) Jugendarbeit betreiben könne. [zit. n. "CVJM-Rundbrief" (1971) Nr. 49 S. III. 26]

Als dieser Prozeß 1970/71 zum offenen Ausbruch führt und die Frage im Raum steht, welche Funktion ein gemeinsamer Dachverband der evangelischen Jugend überhaupt noch haben kann, wenn die Positionen soweit divergieren, beschließt die Mitgliederversammlung der AEJ die Erstellung von zwei Konzeptpapieren, die die grundsätzlichen Standpunkte transparenter machen sollen. Das eine Papier wird von einer Arbeitsgruppe des Burckhardthauses Gelnhausen konzipiert, das andere von der CVJM-Arbeitszentrale in Kassel.

Eine zentrale Bedeutung kommt in den folgenden Auseinandersetzungen dem Arbeitspapier von H. G. Rohrbach, dem damaligen Direktor des Burckhardthauses zu: "Thesen zur Zielsetzung evangelischer Jugendarbeit und deren Umsetzung in pädagogisches Handeln" [im folgenden zit. n. "CVJM-Rundbrief" (1971) Nr. 49 . S. III. 55 ff.] Rohrbach vertritt darin den bereits oben angesprochenen "emanzipatorischen" Typ evangelischer Jugendarbeit. Theologischer Schlüsselbegriff ist dementsprechend "Agape", christliche Nächstenliebe, an der jedes Verhalten und alle Gesellschaftsordnungen zu messen seien (These 5). Den Sozialwissenschaften weist Rohrbach eine entscheidende Bedeutung bei der Verwirklichung der Ziele evangelischer Jugendarbeit zu. "Da Liebe im Sinne der Agape streng situationsgebunden ist, hat evangelische Jugendarbeit ein eminentes Interesse an der gesamten Lebenswirklichkeit der Jugendlichen." (These 10) Evangelische Jugendarbeit grenzt sich nicht von vornherein von anderer Jugendarbeit ab, denn die Intention der Agape ist nicht an einen festen evangelischen oder anderen Kreis gebunden. Der evangelische Charakter der Jugendarbeit sei nicht zu erkennen an spezifisch kirchlichen, religiösen oder biblischen Inhalten und Formen, sondern an dem Bemühen, den Willen Gottes zu tun, d. h. in der konkreten Situation Agape zu praktizieren (These 15). Als Kriterien für evangelische Jugendarbeit entwickelt Rohrbach anschließend Freiwilligkeit, Aggressionsarmut, besondere Berücksichtigung benachteiligter Jugendlicher und Koedukation. Rohrbach lehnt sowohl eine gesellschaftskonforme wie eine kirchenkonforme evangelische Jugendarbeit ab und fordert vielmehr "die Veränderung des bei uns geltenden kapitalistischen Wirtschaftssystems, insofern dieses System in seiner derzeitigen Form einer heutzutage technisch-wissenschaftlich und materiell verwirklichbaren größeren Freiheit, Selbstbestimmung und Würde des Menschen im Wege steht und sie verhindert." (These 21) Ebenso fordert er die Kritisierung der Institution Kirche durch die Jugendarbeit überall dort, wo sie sich der Verwirklichung der Agape in den Weg stellt. (These 23)

Dieses Papier mußte zweifellos auf den Widerstand der biblizistisch orientierten Gruppen in der AEJ stoßen. Wolfhard Schlichtung verfaßte dazu "Andere Thesen zur Zielsetzung evangelischer Jugendarbeit", die die Position von CVJM, EC, MBK (Missionarisch-biblische Dienste unter Jugendlichen und Berufstätigen e.V.) und den Freikirchen darlegte. [zit. n. "CVJM-Rundbrief" (1971) Nr. 49 S. III. 55 ff.] Insbesondere kritisiert Schlichtung darin die letzte oben genannte These Rohrbachs und stellt dagegen: "Evangelische Jugendarbeit ist Jugendarbeit in der evangelischen Kirche." Gegen die Grundlage der Rohrbach-Thesen, den Begriff der Agape, stellt Schlichtung als "Hauptziel evangelischer Jugendarbeit, junge Menschen mit Jesus bekannt zu machen." Die Rolle der Sozialwissenschaften verweist er ins zweite Glied, sie haben seiner Auffassung nach nur Hilfsfunktionen bei der Verwirklichung des Hauptziels.

Zu einer Lösung des Konflikts zwischen den verschiedenen grundsätzlichen Positionen ist es bis heute nicht gekommen und wird es wohl auch kaum kommen, solange beide Strömungen in etwa gleich stark sind. Letztlich ist es m.E. eine Machtfrage, welche Gruppierung sich bei der Definition dessen, was evangelische Jugendarbeit ist, durchsetzt. So beschränkt sich die AEJ heute auf die Wahrnehmung von "Gemeinschaftsaufgaben", die einen Minimalkonsens darstellen. Daneben haben die einzelnen Gliederungen ihre spezifischen "Schwerpunktprogramme".

Die Polarisierung, wie ich sie hier kurz gefaßt auf der BRD-Ebene dargestellt habe, findet ihre Widerspiegelung auf allen Ebenen evangelischer Jugendarbeit. Regional unterschiedlich ist das Kräfteverhältnis zwischen den verschiedenen Positionen. Es wird um so ausgeglichener, je höher die Ebene ist. Auf der Ebene dar EKHN wird das biblizistische Konzept vor allem von den Jugendverbänden CVJM, EC und dem evangelischen Jugendwerk sowie einzelnen Gemeindegruppen vertreten, während ein stärker bedürfnisorientierter - emanzipatorischer Ansatz beim VCP, den im Landesjugenddelegiertentag vertretenen Gemeindegruppen und der Arbeit der Dekanatsjugendwarte und des Amtes für Jugendarbeit vorherrscht.


4.1.3 Die Bedeutung der verschiedenen Ansätze evangelischer Jugendarbeit für das Verständnis des Konflikts in Seligenstadt

Will man die Position des Leitungsteams der evangelischen Jugend Seligenstadt in die oben dargestellte Typisierung einordnen, so gibt es dazu zwei Anhaltspunkte: Programmatische Äußerungen und die konkrete Praxis. Zum ersten ist das Papier "Thesen zur Zielsetzung der evangelischen Jugend Seligenstadt" heranzuziehen, das als Anlage 2 zum Teil 2.3 vorliegt. Diese Thesen sind auf einem Seminar im März 1973, also vor dem Beginn der konflikthaften Auseinandersetzung mit dem Kirchenvorstand entstanden. Auf den ersten Blick ist zu erkennen, daß das oben vorgestellte Papier von H. G. Rohrbach, dem Wortführer des emanzipatorischen Flügels in der Polarisierungsdebatte, bei der Erstellung der Seligenstädter Thesen durchgängig verarbeitet wurde. Dies wird deutlich in den Thesen 1, 2, 6, 16, 18 und 19. Weitere Impulse stammen aus einem nicht näher bezeichneten Papier, welches als Ergebnis einer "Teilnehmergruppe an einem sozial-ethischen Seminar in "Weg- und Wahrheit", der Kirchenzeitung der EKHN, erschienen ist.

Betrachtet man die Praxis des Leitungsteams, so fällt zum einen die Beschäftigung mit gesellschaftspolitischen Problemen auf: Dritte Welt und Kriegsdienstverweigerung. Der zweite Schwerpunkt ist die ausführlich in Teil 2.2 dargestellte Mitarbeit im Projekt Jugendhaus. Hier steht der Einsatz für die Verbesserung der Freizeitmöglichkeiten breiter Teile der Seligenstädter Jugend im Vordergrund, wenn auch ein darüber hinausgehender Ansatz an den Interessen der Jugendlichen in anderen Lebensbereichen nur sporadisch auftritt ("Lehrlingsgruppe"). Hinzu kommt die Beschäftigung mit Jugendlichen in besonderen Problemlagen (Drogen, Familienkonflikte usw.). Von diesen theoretischen wie praktischen Indizien her ist die Arbeit des Leitungsteams am Übergang vom "bedürfnisorientierten" zum "emanzipatorischen" Typ evangelischer Jugendarbeit einzuordnen.

Sieht man sich die Argumentation des Kirchenvorstandes genauer an, so zielt die Kritik am Leitungsteam kaum auf die nicht vorhandene biblische Orientierung. Weitaus stärker verunsichert ihn offensichtlich das Überschreiten des institutionellen Rahmens der Kirchengemeinde. Das äußert sich in dem Verbot der Raumbenutzung durch die Kriegsdienstverweigerer-Gruppe in dem Moment, in dem sich diese als Gruppe im Verband der Kriegsdienstverweigerer (VK) konstituierte und damit zur "kirchenfremden" Organisation wurde, ebenso wie in der Haltung gegenüber dem Projekt Jugendhaus, das der Kirchenvorstand "nicht im Griff" hatte. Eine immer wieder gestellte Frage war die nach der Konfession der Mitarbeiter und der erreichten Jugendlichen, die sich heute noch manifestiert in dem Vorbehalt des aktiven und passiven Wahlrechts zur Gemeindejugendvertretung auf Evangelische. Der Kirchenvorstand vermißte die Beschäftigung mit "unserer Jugend", wie die heute bestehenden, vom Pfarrer aufgebauten Jugendgruppen genannt werden. Dies entspricht der Erwartung nach einem gemeindebezogenen Typ der Jugendarbeit, der sich ja durch seine starke Integrationstendenz in bestehende Gemeindestrukturen ausweist.

Was liefert nun diese Analyse für das Verständnis des Konflikts zwischen den beiden Parteien ? Zunächst einmal wurde deutlich, daß von dem Kirchenvorstand ein anderer Typ evangelischer Jugendarbeit erwartet wurde, als ihn das Leitungsteam vertrat. Dies ist sicher ein Ansatz zur Begründung der geschilderten Auseinandersetzung. Es bleiben jedoch einige Fragen offen. Was heißt es, wenn der Kirchenvorstand die Beschäftigung mit "seiner" Jugend vermißt ? Wieso erregte gerade das starke Engagement des Leitungsteams für angeblich gescheiterte Jugendliche so starke Widerstände der Kirchengemeinde ? Hier zeigt sich die Grenze einer Erklärung des Konflikts allein auf der Grundlage unterschiedlich festgestellter pädagogisch-theologischer Orientierungen. Es tritt die Frage nach den materiell-soziologischen Bedingungen der Kirchengemeinde und des Kirchenvorstandes auf, die die Normen und Werte bedingen, die zu dem aufgezeigten Konfliktverhalten führen. Ansätze zu einer solchen Analyse soll der folgende Abschnitt liefern.


4.2 Ansätze zu einer näheren Bestimmung der Kirchengemeinde Seligenstadt als soziologische Einheit

In dem folgenden zweiten Versuch, den Konflikt des Leitungsteams der evangelischen Jugend mit dem Kirchenvorstand zu erklären, will ich die Struktur des Konfliktpartners Gemeinde und Kirchenvorstand untersuchen. Dabei geht es mir nicht um die theologischen Implikationen des Begriffs "Gemeinde", sondern vielmehr um die soziologischen Bedingungen dieser Einheit.

Unsere Kirche ist formell und nach ihrem Selbstverständnis Volkskirche; 94 % der BRD-Bevölkerung gehörten 1970 einer der beiden großen Konfessionen an. Die kontinuierliche materielle Absicherung ist durch das vom Staat durchgeführte Kirchensteuereinzugsverfahren gewährleistet und wird durch die jederzeitige Möglichkeit, durch einfache Erklärung auszutreten, z.Z. nicht ernsthaft gefährdet. Der Höhepunkt der Kirchenaustrittswelle ist überschritten, die Quote liegt im Schnitt bei etwa 0,5 % jährlich.

Die "Amtshandlungen" Taufe, Konfirmation, Trauung und Beerdigung werden von dem überwiegenden Teil der Bevölkerung - der Volkskirche - quer durch alle Schichten in Anspruch genommen. Dies erweckt den Anschein der Offenheit. Tatsächlich aber "wird die Offenheit zur leeren Proklamation, denn die Offenheit ist auf einen ausgewählten Kreis zugeschnitten und hat Teilnahmebedingungen" [so Landesjugendpfarrer Manfred Kopp in seinem Bericht vor der Synode der EKHN 1975].

Wie sehr die Kirchengemeinde Seligenstadt auf einen ausgewählten Kreis zugeschnitten ist und welche Konsequenzen dies für die herrschenden Normen und Werte - die ja bekanntlich die Normen und Werte der Herrschenden sind - hat, soll hier aufgezeigt werden.


4.2.1 Die "Kerngemeinde" als Subkultur in der Volkskirche

Über die "volkskirchlichen" Amtshandlungen hinaus beteiligen sich an Veranstaltungen der evangelischen Kirche durchweg Minderheiten: Jene 1-2 %, die sonntags einen Gottesdienst besuchen, die "aktiven" Gemeindeglieder, die in einem Kreis der Kirche mitarbeiten, die, die öfter Kontakt zum Pfarrer suchen. Es ist schwer, diese subkulturellen Gruppen zu analysieren, denn die meisten dieser Größen sind soziologisch nicht exakt bestimmbar. So hört man oft nur vage Vermutungen über die Teilnahmestruktur einzelner Kirchengemeinden.

Alle sechs Jahre allerdings gibt es ein Ereignis, welches analysierbare Daten liefert: Die Wahlen zum Kirchenvorstand. Bereits bei der Betrachtung der Wahlbeteiligung wird deutlich, daß es eine Minderheit ist, die die Zusammensetzung des Leitungsgremiums Kirchenvorstand bestimmt. Obwohl bei den letzten Wahlen im Mai 1973 alle Wahlberechtigte, das sind alle getauften und zum Abendmahl zugelassenen Gemeindeglieder ab 16 Jahre, frühzeitig persönlich benachrichtigt wurden und obwohl ein großer Werbefeldzug ("Ein Christ lebt nicht im Schneckenhaus - er wählt und läßt sich wählen") gestartet wurde, haben nur wenige gewählt, wie die folgende Tabelle zeigt:

Tabelle 1: Wahlbeteiligung bei den Kirchenvorstandswahlen 1973
Ev. Kirche in Hessen und Nassau: 19,24 %
Propsteibezirk Nord-Starkenburg: 14,4 %
Dekanat Rodgau: 13,6 %
Kirchengemeinde Seligenstadt: 10,0 %

In der Kirchengemeinde Seligenstadt hat also nur jeder 10. Wahlberechtigte von seinem Stimmrecht Gebrauch gemacht. Dies ist ein näher zu untersuchender Tatbestand, der die Vermutung nahe legt, daß sich in den Wählern zum Kirchenvorstand jene oben erwähnte gemeindliche Subkultur reproduziert, die die Normen in der Kirche setzt.


4.2.2 Die Wähler zum Kirchenvorstand - soziologische Betrachtung

Die folgenden Ausführungen stützen sich auf eine von mir durchgeführte Auswertung der Wählerkartei der evangelischen Kirchengemeinde Seligenstadt zur Kirchenvorstandswahl 1973. Anhand des Wahlvermerks wurden Alter, Geschlecht und Beruf ermittelt.

Die Ergebnisse der Auswertung werden in Beziehung gesetzt zu den entsprechenden Daten der BRD-Bevölkerung, wie sie dem Jahrbuch des statistischen Bundesamtes zu entnehmen sind. Dies zum einen, weil die Daten der kommunalen Gemeinden im Gebiet der Kirchengemeinde nicht differenziert genug vorliegen, zum anderen, weil selbst dann noch größere Abweichungen zwischen der Struktur des katholischen und evangelischen Bevölkerungsteils bestehen könnten, ja vermutet werden müssen, denn der Anteil der Evangelischen ist in Seligenstadt in den vergangenen 15 Jahren vor allem durch Zuzüge von etwa 20 % auf fast 30 % angestiegen. Der Vergleich kann ohnehin nur grobe Anhaltspunkte liefern, zumal die Bezeichnung der Stellung im Berufsleben sehr unspezifisch ist.


4.2.2.1 Altersstruktur der Wähler

Tabelle 2 zeigt die prozentuale Vertretung der Geburtsjahrgänge 1890 - 1957 bei den Wählern zum Kirchenvorstand im Vergleich zur BRD-Bevölkerung. Dabei fällt vor allem die überproportionale Häufigkeit zweier Altersgruppen auf:

Die Jahrgänge 1895 - 1912, also die bei der Wahl 61 - 78 jährigen, machen 30,6 % der Wähler aus, während die gleiche Altersgruppe in der BRD-Bevölkerung nur 21,9 % darstellt;

die Jahrgänge 1927 - 1939 also die bei der Wahl 34 - 46 jährigen, machen 29,4 % der Wähler aus, während die gleiche Altersgruppe in der BRD-Bevölkerung nur 26,0 % darstellt.

Die hohen Zahlen bei den Jahrgängen 1955 und 1956 gehen auf die Wahlaufrufe des Leitungsteams der evangelischen Jugend zurück und haben für die Analyse keine weitere Bedeutung.


4.2.2.2 Erwerbs- und Berufsstruktur der Wähler

Tabelle 3 schlüsselt die Berufsstruktur der Jahrgänge 1895 bis 1912 auf, Tabelle 4 der Jahrgänge 1927 bis 1939. Erwartungsgemäß überwiegt in der ersten Altersgruppe die Zahl der Rentner und Rentnerinnen, wobei der Anteil der Frauen insgesamt bei 67 % liegt. Die Gruppe wird dominiert von Rentnerehepaaren und alleinstehenden Rentnerinnen.

In der zweiten Gruppe liegt der Frauenanteil zwar "nur" bei 55 %, ist damit aber immer noch über dem BRD-Durchschnitt. Bei den Erwerbstätigen liegt der Arbeiteranteil mit 39 % deutlich unter dem BRD-Durchschnitt von 44 %, während der Beamtenanteil mit 16 % doppelt soviel beträgt wie der Anteil an der BRD-Bevölkerung. Es sind dies vor allem Lehrer und Justizbeamte. Sie kann daher charakterisiert werden als deutlich mittelschichtorientierte Gruppe "in den besten Jahren", d.h. in der Phase des beruflichen Aufstiegs.

Eine Gegenüberstellung der prozentualen Anteile der gesamten Wähler mit der Erwerbs- und Berufsstruktur der BRD gibt folgende Übersicht:

Tabelle 5: Erwerbs- und Berufsstruktur der KV-Wähler und der BRD-Bevölkerung
Kirchenvorstands-Wähler: BRD-Bevölkerung ab Jg. 1957:
Erwerbspersonen: 37,2 % 51,8 %
davon:
Selbstständige: 11,6 % 10,4 %
Beamte: 18,6 % 9,2 %
Angestellte: 33,3 % 36,5 %
Arbeiter: 36,4 % 43,9 %
Rentner: 23,9 % 24,9 %
Hausfrauen: 29,4 % 21,3 %
sonstige Angehörige: 9,5 % 2,0 %

Es fällt der niedrige Anteil von Erwerbstätigen bei den Wählern zum Kirchenvorstand auf, wohingegen gesellschaftlich eher benachteiligte Gruppen wie Hausfrauen und sonstige Angehörige (darunter in Ausbildung befindliche) stärker vertreten sind.

Die Tatsache, daß der Anteil der Rentner um 1 % geringer ist als der BRD-Durchschnitt, obwohl, wie ich aufgezeigt habe, gerade die 61 - 78 jährigen überdurchschnittlich vertreten sind, liegt daran, daß über 78-jährige kaum noch gewählt haben; außerdem ist ein großer Teil der Hausfrauen schon im Rentenalter.

Bei der Aufgliederung der Erwerbstätigen fällt wiederum der geringe Anteil von Arbeitern und der hohe Anteil der Beamten auf.


4.2.3 Der Kirchenvorstand und seine Zusammensetzung

Zunächst möchte ich die Funktionen und die Bildungsweise des Kirchenvorstandes näher erläutern. Die Kirchenvorstände haben in der Evangelischen Kirche in Hessen und Nassau sehr weitreichende Befugnisse. Sie sind das Leitungsorgan der Gemeinde und entscheiden relativ unabhängig von höheren kirchlichen Ebenen insbesondere in allen finanziellen, personellen und Räumlichkeiten betreffenden Angelegenheiten. Die Kirchenvorsteher werden alle 6 Jahre neu gewählt. Wahlberechtigt sind die Gemeindeglieder ab dem 16., wählbar ab dem 21. Lebensjahr.

Bereits vor der eigentlichen Wahl, zu der alle Wahlberechtigten benachrichtigt werden, fällt die die Zusammensetzung des künftigen Kirchenvorstandes im Wesentlichen bestimmende Entscheidung mit der Aufstellung des Wahlvorschlages. Dieser wird von einem Wahlausschuß vorgelegt, der vom seitherigen Kirchenvorstand eingesetzt wird und dem neben den Pfarrern je nach Gemeindegröße zwischen 4 und 7 Gemeindeglieder und 2 oder 5 Kirchenvorsteher angehören. Die Gemeindeglieder werden dabei vom alten Kirchenvorstand bestimmt. Damit ist bereits gewährleistet, daß sich die "Kontinuität" in der Zusammensetzung des Kirchenvorstandes fortsetzt, denn der Wahlausschuß wird aufgrund seiner Konstitutionsbedingungen hauptsächlich Kandidaten vorschlagen, die in das Milieu des alten Kirchenvorstandes passen. Es ist in der Kirchengemeindewahlordnung allerdings eine Möglichkeit vorgesehen, in einer vor der Wahl einzuberufenden Gemeindeversammlung diesen Wahlvorschlag, der nur 50 % mehr Kandidaten enthalten muß, als Kirchenvorsteher zu wählen sind, um nochmals die Anzahl der zu Wählenden zu ergänzen. Hierzu genügen 20 Stimmen Wahlberechtigter Gemeindeglieder. Leider wird von dieser Möglichkeit kaum Gebrauch gemacht. So können denn in der Regel 2/3 der vorgeschlagenen Kandidaten bereits sicher sein, Kirchenvorsteher zu werden.

Die folgenden Ausführungen beziehen sich auf die Zusammensetzung des 1973 gewählten Kirchenvorstandes der Kirchengemeinde Seligenstadt. Die Alters- und Berufsangaben wurden der Kandidatenliste entnommen.


4.2.3.1 Altersstruktur des Kirchenvorstands

Tabelle 6: Verteilung der einzelnen Jahrgänge der Kirchenvorsteher
und der nichtgewählten Kandidaten (in Klammern) in Seligenstadt:
1909 1911 1915 1919 1920 1921 1924 1928 1930 1931 1933 1934 1937 1938 1939 1941 1942 1948
1 (1) 1 1 (1) 1 1 (2) 2 (1) 1 (1) 1 1 2 (1) 1 2 (1) (1) 1

Auffallend ist die starke Konzentration auf die Jahrgänge 1928 bis 1941. 62,5 % der gewählten Kirchenvorsteher und 56 % der gesamten Kandidaten gehören dieser Altersgruppe an, obwohl diese Gruppe in der BRD-Bevölkerung ab Jg. 1952 nur mit 32,2 % vertreten ist.

Hingegen sind die jüngeren Jahrgänge ausgesprochen unterrepräsentiert. Selbst der 1948 geborene Kirchenvorsteher ist inzwischen ausgeschieden und durch einen 7 Jahre älteren ersetzt worden.

Auch die älteren Jahrgänge sind weniger vertreten, insbesondere fehlen Kirchenvorsteher im Rentenalter.


4.2.3.2 Berufsstruktur des Kirchenvorstandes

Tabelle 7 zeigt die Berufsstruktur des Kirchenvorstandes in Seligenstadt (in Klammern die der gesamten Kandidaten) im Vergleich mit der BRD-Bevölkerung ab Jahrgang 1952.

Tabelle 7:

gewählte Kirchenvorsteher (Kandidaten) BRD-Bevölkerung ab Jg. 52:
Erwerbspersonen: 81,3 % (72,0 %) 49,2 %
davon:
Selbstständige: 15,4 % (11,1 %) 11,7 %
Beamte: 46,2 % (38,9 %) 8,2 %
Angestellte: 30,8 % (44,4 %) 35,6 %
Arbeiter: 7,7 % (5,6 %) 44,5 %
Rentner: 0,0 % ( 0,0 %) 27,1 %
Hausfrauen: 12,5 % (24,0 %) 22,8 %
sonstige Angehörige: 6,3 % ( 4,0 %) 0,9 %

Die Tabelle zeigt eine krasse Abweichung der Berufsstruktur des Kirchenvorstandes von der einer vergleichbaren Altersgruppe der BRD-Bevölkerung. Vom ersten Selektionsschritt, der Aufstellung der Kandidaten, zum zweiten, der Wahl, verschärft sich diese Abweichung z.T. sogar noch. Im Kirchenvorstand sind 75 % Männer vertreten, obwohl mehr Frauen als Männer gewählt haben ! Es besteht eine auseinanderklaffende Schere zwischen den vorwiegend nicht erwerbstätigen Wählern zum Kirchenvorstand und den vorwiegend berufstätigen Kirchenvorstehern. Innerhalb der Gruppe der Erwerbstätigen sind wiederum in extremen Maßen die Beamten überrepräsentiert, während der Anteil der Arbeiter weit unter dem Bevölkerungsquerschnitt liegt.

Der Kirchenvorstand kann daher charakterisiert werden als majorisiert von kleinbürgerlichen Schichten in der Phase des beruflichen Aufstiegs und entspricht damit weitgehend der im vorigen Abschnitt herausgefundenen zweiten Hauptgruppe der Kirchenvorstands-Wähler.


4.2.4 Zusammenfassung und Verallgemeinerung

Ich habe aufgezeigt, daß nur eine Minderheit von 10 % der wahlberechtigten Gemeindeglieder in Seligenstadt von ihrem Recht Gebrauch gemacht haben. In diesen 10 % spiegelt sich m.E. die "Kerngemeinde" wieder, diejenigen, die über die Amtshandlungen hinaus mit der Kirche verbunden sind und die Normen setzen.

Diese Minderheit entspricht in ihrer soziologischen Zusammensetzung nicht der Bevölkerung und damit der Volkskirche. Vielmehr herrschen zwei Gruppen vor:

Gesellschaftlich randständige, weil nicht in den Produktionsprozeß eingegliederte Menschen wie Rentner und Hausfrauen;

Kleinbürgerliche Schichten mittleren Alters.

Im Kirchenvorstand, dem Leitungsorgan und damit auch institutionell abgesichert Normen setzenden Gremium setzt sich die zweite oben genannte Gruppe der Kleinbürger, repräsentiert durch einen extrem überdurchschnittlichen Anteil an Beamten, Angestellten und kleinen Gewerbetreibenden, durch.

Diese Analyse der gemeindlichen Struktur der Kirchengemeinde Seligenstadt steht nicht isoliert da, sondern wird durch andere Erhebungen bekräftigt:

Tabelle 8: Berufsstruktur der gesamten Kirchenvorsteher in der EKHN im Vergleich zur BRD-Bevölkerung ab Jg. 52 (Quelle: Kirchenarchiv der EKHN):

Kirchenvorsteher in der EKHN BRD-Bevölkerung ab Jg. 1952
Selbstständige: 26,5 % a) 5,4 %
Beamte des höh. Dienstes: 8,5 % b) 0,8 %
Beamte d. mittl. u. einf. D. 8,7 % b) 5,5 %
leitende Angestellte: 7,0 % b) 1,2 %
sonstige Angestellte: 18,6 % b) 26,1 %
Arbeiter: 12,8 % b) 33,9 %
mithelfende Fam.-Ang.: o. A. 2,2 %
Arbeitslose: o. A. 1,1 %
Hausfrauen: 16,2 % 22,5 %
sonstige Angehörige: 1,2 % 0,9 %

a) Darunter 14,6 % Landwirte
b) Rentner und Pensionäre sind proportional auf die frühere Berufstätigkeit umgerechnet, um den Vergleich mit der kirchlichen Statistik, die Rentner nach ihrem früheren Beruf einordnet, zu ermöglichen.

Auch auf EKHN-Ebene zeigt sich deutlich die kleinbürgerliche Orientierung der Kirchenvorstände, wobei diese Statistik durch den überragenden Teil der Selbstständigen besticht.

Eine ähnliche Untersuchung wurde von Herbert Lindner in Bayern durchgeführt. Auch er kommt zu dem Ergebnis: "Die Verteilung der Berufe in den Kirchenvorständen entspricht in keiner Weise der Bevölkerung. Stark überrepräsentiert sind selbständige Gewerbetreibende und Angehörige freier Berufe sowie Beamte. Annähernd ihrem Anteil in der Bevölkerung dürfte der Anteil der Angestellten entsprechen. Während von allen Erwerbstätigen jeder zweite Arbeiter ist, gilt dies nur für jeden zehnten erwerbstätigen Kirchenvorsteher." [Herbert Lindner: Die Kirchenvorstände in der ev.-luth. Kirche in Bayern; in: Spiegel, Kirche und Klassenbindung, Frankfurt 1974, S. 94]

Bestätigt wird dies schließlich auch auf BRD-Ebene: Eine Untersuchung von Gerhard Rau, die die Wahlen zu den Kirchenvorständen, Presbyterien, Gemeindekirchenräten usw. analysierte, kommt mit gewissen regionalen Abweichungen im Wesentlichen zum gleichen Ergebnis [Gerhard Rau, Die soziale Zusammensetzung ev. Kirchenräte und Synoden; in Spiegel, Kirche und Klassenbindung, S. 72 ff.]. Weiter stellt Rau fest, daß der Arbeiteranteil auf höheren Ebenen (Dekanat, Landeskirche) noch stärker zugunsten von Beamten und Akademikern zurückgeht.


4.2.5 Bedeutung der kirchensoziologischen Analyse für das Verständnis des Konflikts in Seligenstadt

Helmut Geller schreibt in seinem Aufsatz über die Schichtzugehörigkeit der (katholischen) Pfarrgemeinderatsmitglieder sehr zutreffend:

"Welche Probleme eine Institution aufgreift, und nach welchen Kriterien sie diese Probleme zu lösen versucht, hängt zum einen von ihrer Zweckbestimmung und zum anderen von der Wahrnehmungsfähigkeit ihrer Mitglieder ab. Die Persönlichkeitsstrukturen der Mitglieder erhalten um so größere Bedeutung, je unspezifischer die Zweckformel eines bestimmten Sozialsystems ist." [Helmut Geller: Die Schichtzugehörigkeit der Pfarrgemeinderatsmitglieder; in: Spiegel, Kirche und Klassenbindung, S. 84]

Die Zweckformel des Kirchenvorstandes ist sehr unspezifisch: "Der Kirchenvorstand leitet nach der Schrift und gemäß dem Bekenntnis die Gemeinde und ist für das gesamte Gemeindeleben verantwortlich. Er hat darauf zu achten, daß in der Gemeinde das Wort Gottes lauter verkündet wird und die Sakramente recht verwaltet werden. Er soll die Sendung der Gemeinde in die Welt ernst nehmen und die Gemeindeglieder dazu anhalten. Geeignete Gemeindeglieder soll er zur Mitarbeit ermuntern und vorhandene Gaben in der Gemeinde wirksam werden lassen." [Kirchenordnung der EKHN, § 6 (1)]

"Die Mitglieder des Kirchenvorstandes haben ihre Entscheidungen als Glieder der Gemeinde Jesu Christi allein in der Bindung an Gottes Wort und in der Treue gegen Bekenntnis und Ordnung der Gemeinde und Kirche zu treffen und sind an keinerlei sonstige Weisungen gebunden." [Kirchenordnung der EKHN, § 9 (1)]

Dadurch, daß es keinen konkreten Zielrahmen für die Arbeit des Kirchenvorstandes wie der pluralistischen Kirche überhaupt gibt, wird die Persönlichkeitsstruktur der Kirchenvorsteher - die sich weitgehend aus ihrer Schichtzugehörigkeit ergibt - zum entscheidenden Kriterium.

Da aus theologischen Postulaten heraus entweder keine oder fast alle konkret praktischen Orientierungen, Entscheidungen und Handlungen abzuleiten sind und, wie die Geschichte zeigt, auch bereits abgeleitet worden sind, erscheint gegenüber einer eher idealen Betrachtungsweise, die von theologischen Postulaten ausgebt, eine Sicht plausibler, die die Politik eines Kirchenvorstands auf die materielle Basis seiner Mitglieder zurückführt.

Hier liegt m.E. der Schlüssel zum Verständnis des im Praxisteil geschilderten Konflikts zwischen dem Leitungsteam der evangelischen Jugend und dem Seligenstädter Kirchenvorstand. Vergegenwärtigen wir uns nochmals das Hauptargument des Kirchenvorstandes, das zur Auslösung des Konflikts 1973 und zur Eskalation 1976 führte: Es waren beide Male die Aktivitäten des Leitungsteams in Sachen Jugendhaus. In einem Projekt also, das allen Jugendlichen offen stand, unabhängig von Aufnahmeritualen, ihrer Schichtzugehörigkeit, unabhängig von der Konformität ihrer Normen und Werte mit vorgegebenen Erwartungen der Einrichtung. Die Tatsache, daß dann auch Arbeiterjugendliche und gefährdete Jugendliche kamen und von dem Haus Besitz ergriffen, mußte zwangsläufig zur Ablehnung durch mittelständische Kirchenvorsteher führen. Hier prallten Wertsysteme aufeinander, die nicht vermittelbar waren.

Bezeichnend ist der Text des Kirchenvorstands-Beschlusses, mit dem die Arbeit des Leitungsteams rehabilitiert wurde: "...Gleichwohl ist der Kirchenvorstand der Auffassung, daß diese auf Randgruppen der Gesellschaft ausgerichtete Arbeit nicht einzige Form evangelischer Jugendarbeit sei..." (siehe Anlage 22 zu Teil 2.3) Hier bezeichnet eine tatsächliche "Randgruppe" der Gesellschaft, nämlich der Kirchenvorstand, Arbeiterjugendliche, die die Mehrheit der Jugendlichen darstellen, als Randgruppe.

Dies mußte die ganze Arbeit des Leitungsteams diskreditieren, das sich nicht als den kleinbürgerlichen Erwartungen der Kirchenvorsteher verpflichtet erwies, sondern auf die Bedürfnisse und Interessen breiter Teile der Jugendlichen - zumindest während der Jugendcafe-Phase - einging und damit den Begriff der Volkskirche ernst nahm.

Die Frage nach der Konfession der erreichten Jugendlichen, die dem Leitungsteam laufend gestellt wurde, ist in Wirklichkeit die Frage nach der Ausrichtung auf bürgerliche Jugendliche - die eigenen Kinder der Kirchenvorsteher. Die Frage nach dem "Evangelischen" an der Arbeit des Leitungsteams erscheint so weniger als Frage nach bestimmten theologisch-pädagogischen Konzepten von Jugendarbeit, wie ich sie im vorangegangenen Kapitel gestellt habe, als vielmehr als Frage nach der bürgerlich-kirchlichen Konformität.


4.2.6 Kritik der Praxis des Leitungsteams

Dieses Kapitel soll nicht enden, indem die "Schuld" an dem Konflikt einem - wie ich gezeigt habe - kleinbürgerlichen Kirchenvorstand zugeschoben wird, ohne die Praxis des Leitungsteams und damit meine eigene Praxis zu kritisieren.

An dieser Stelle muß die Frage nach der Strategie einer an den Bedürfnissen und Interessen breiter Bevölkerungsschichten ansetzenden kirchlichen Arbeit gestellt werden, die Frage, wie sich eine volkskirchlich orientierte Arbeit im subkulturellen Milieu einer Kirchengemeinde halten kann.

Wie wir gesehen haben, konnte der Kirchenvorstand, ohne den Widerstand eines nennenswerten Teils der Gemeinde befürchten zu müssen, die Arbeit des Leitungsteams einfach "verbieten". Das Leitungsteam stand in der Kirchengemeinde isoliert da, ohne jede "Lobby". Zwar gab es immer eine relativ große Gruppe von Jugendlichen, die kontinuierlich an den Projekten und Veranstaltungen der evangelischen Jugend teilnahm, diese Jugendlichen wurden aber ständig vor der Auseinandersetzung mit der Amtskirche abgeschirmt. Das Leitungsteam schaffte einen Freiraum, in dem Probleme der Finanzierung und rechtlichen Absicherung der Arbeit nicht auftraten. Damit ist die Arbeit des Leitungsteams als "anti-institutionalistisch" einzustufen. Die Rolle des Leitungsteams entsprach genau der von hauptamtlichen Sozialarbeitern, die ihre Arbeit nach oben hin legitimieren müssen, aber die Basis nicht dazu befähigen, ihre Interessen gegenüber der Trägerinstitution klar zu vertreten.

Eine an den Interessen der Jugendlichen orientierte kirchliche Jugendarbeit hätte es vielmehr zu leisten, ein Selbstbewußtsein der jugendlichen i n der Institution zu fördern und sie zu befähigen, ihre Interessen gegenüber der gemeindlichen Subkultur, die aufgrund ihres bürgerlichen Bewußtseins bestimmt, was kirchlich ist, kollektiv zu vertreten. Ansätze dazu bieten die Jugendvertretungen, deren Möglichkeiten zur Interessensvertretung noch nicht voll genutzt sind.


5. Schluß

Leider konnten nicht alle Aspekte einer oppositionellen Jugendarbeit in Seligenstadt im Rahmen dieser Arbeit behandelt werden. Eine sehr wichtige Aufgabe z.B. wäre es, die Rolle der selbstorganisierten Wochenendseminare in Sandbach zu analysieren im Hinblick auf ihre Katalysatorfunktion für die Arbeit in den Projekten. Ebenso wäre es lohnend, von einem sozialpsychologischen Ansatz her die Prozesse zwischen den Jugendlichen und deren Auswirkungen auf Einstellungen und Verhaltensweisen zu untersuchen. Trotzdem nur einige eingegrenzte Aspekte behandelt wurden, hat die Bearbeitung mehr Raum beansprucht, als ich geplant hatte. Dies zeigt mir, wie komplex die geschilderten und ansatzweise analysierten Prozesse waren, deren Darstellung nicht beliebig vereinfacht werden kann.

Zusammenfassend sei noch einmal festgestellt:

Die Zielvorstellungen und die Praxis der evangelischen Jugend Seligenstadt und der Jugendlichen in deren Umfeld war in keinem Falle eindeutig politisch motiviert und reflektiert und auf eine radikale Veränderung bestehender Ordnungen ausgerichtet, wie dies z.T. von konservativen Beobachtern - zuweilen auch von Beteiligten, die die politische Funktion dieser Jugendarbeit überschätzen - behauptet wird. Viel eher herrschte eine moralische Betroffenheit über die mangelnde Kommunikation untereinander, die selbstzerstörerischen Tendenzen mancher Jugendlicher und die Ungerechtigkeit der Welt schlechthin.

Die Opposition griff in ihren vielfältigen Erscheinungsformen nie die materielle Basis dieser Gesellschaft an, sondern richtete sich gegen Erscheinungen. Dennoch reichte das Nicht-Angepaßt-Sein an die traditionellen Muster der Freizeitgestaltung, wie sie von den im Stadtjugendring vertretenen Gruppen angeboten werden, und an die Normen der kirchlichen Subkultur, wie sie von dem Kirchenvorstand getragen werden, aus, um Sanktionsmechanismen von beiden Seiten auszulösen.

Die Auseinandersetzung mit diesen Kräften jedoch schaffte wiederum Möglichkeiten, am Konflikt zu lernen und sich der eigenen Interessen bewußter zu werden.




Literaturverzeichnis

A. Zitierte Literatur

Belardi, Nando: Erfahrungsbezogene Jugendbildungsarbeit Lollar bei Gießen 1975

Bierhoff, Burkhardt: Theorie der Jugendarbeit Lollar bei Gießen 1974

Damm, Diethelm: Politische Jugendarbeit München 1975

Deppe-Wolfinger, Helga: Arbeiterjugend - Bewußtsein und politische Bildung Frankfurt 1972

Freire, Paolo: Pädagogik der Unterdrückten Stuttgart 1971

Giesecke, Hermann: Die Jugendarbeit München 1971

Kalb, Peter E.: Aktiv werden. Nichts kommt von selbst. in: "hessische Jugend" (1973) Nr. 3

Kirchenordnung der EKHN Darmstadt 1972

Kopp, Manfred: Stand der evangelischen Jugendarbeit Drucksache der Synode der EKHN, Darmstadt 1975

Liebel, Manfred: Aufforderung zum Abschied von der sozial-integrativen Jugendarbeit in: "deutsche Jugend" (1970) Nr. 1

Mollenhauer, Klaus: Evangelische Jugendarbeit in Deutschland München 1969

Müller/Kentler/Mollenhauer/Giesecke: Was ist Jugendarbeit ? München 1964

Rohrbach, H. 0.: Thesen zur Zielsetzung evangelischer Jugendarbeit und deren Umsetzung in pädagogisches Handeln; in: "CVJM-Rundbrief" (1971) Nr. 49

Schlichtung, Wolfhard: Andere Thesen zur Zielsetzung evangelischer Jugendarbeit; in ebd.

Seydel, Otto: Kirchliche Jugendarbeit Stuttgart 1974

Spiegel, Yorick (Hg.): Kirche und Klassenbindung Frankfurt 1974

Stoodt/Weber: Weg zur Konfirmation in: "Evangelische Kommentare" (1977) Nr. 6


B. Weitere benutzte Literatur

Böhnisch, Lothar (Hg.): Jugendarbeit in der Diskussion München 1973

Freizeit wofür ? Themenheft der "Hessischen Jugend" (1977) Nr. 2

Giesecke, Hermann; Politische Aktion und politisches Lernen; München 1971

Grundfragen offener Jugendarbeit, Themenheft der "Heim- und Erzieher-Zeitschrift" Westberlin 1977

Jugendzentrum zwischen Utopie und Realität, Themenheft der "hessischen jugend" (1975) Nr. 5/6

Kühne, Norbert (Hg.): Wir arbeiten mit Jugendlichen Lollar bei Gießen 1975

Lessing/Liebel: Jugend in der Klassengesellschaft München 1974

Schirmer, Dietrich und Eva: Deklassiert ? Arbeiterjugendliche in der Kirche; München 1976

Theorien politischer Bildung, Themenheft der "Hessischen Jugend" (1976) Nr. 7